Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

pkl_143.001
zum Ganzen noch so unbedeutend, dürfen nie überflüssig, pkl_143.002
noch weniger störend erscheinen. Aus der Art pkl_143.003
ihrer Handlungsweise muß sich der Leser ebenfalls ein pkl_143.004
bestimmtes Gemälde ihres Charakters entwerfen können pkl_143.005
und in diesem Charakter müssen zugleich -- wie pkl_143.006
natürlich auch in dem des Helden -- die Motive der pkl_143.007
Handlungen vollständig begründet sein. -- Uebrigens ist pkl_143.008
es nach unserem Bedünken auch nicht fehlerhaft, wenn der pkl_143.009
Hauptpersonen, von ziemlich gleicher Wichtigkeit, in pkl_143.010
einem Epos mehrere sind; nur ist es dann -- der pkl_143.011
erforderlichen Einheit des Ganzen wegen -- um so pkl_143.012
unerläßlicher, daß Alle in engem Bezug zur großen pkl_143.013
Hauptbegebenheit (Katastrophe) stehen, indem sie theils pkl_143.014
dieselbe beschleunigen, theils sie (vergeblich) zu verhindern pkl_143.015
suchen; -- gleich das erste und noch unerreichte pkl_143.016
Muster im Fache des Epos, die Jlias des Homer, ist pkl_143.017
dieser Art.

pkl_143.018

§. 205. Was die Behandlung des Stoffs angeht, pkl_143.019
so liegt es im Wesen und in der Bestimmung pkl_143.020
des Epos, daß es dabei nicht sowohl (wie beim Roman) pkl_143.021
auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung, sondern pkl_143.022
hauptsächlich auf lebendige Veranschaulichung pkl_143.023
ankommt. Das Epos geht in die Breite, die einzelnen pkl_143.024
Züge seines Gesammtbildes brauchen nicht in ununterbrochener pkl_143.025
Reihe neben einander, sondern können zerstreut pkl_143.026
liegen; nur müssen sie sich zu einer Anschauung pkl_143.027
vereinigen lassen. Das Epos kann darum auch nicht pkl_143.028
einseitig auf eine Empfindung wirken; es ergreift die pkl_143.029
Gesammtheit unserer Kräfte und gestattet weder lyrische pkl_143.030
Erreglichkeit, noch überhaupt Aufregung der Leidenschaften. pkl_143.031
"Wir empfangen die Eindrücke der Dichtung

pkl_143.001
zum Ganzen noch so unbedeutend, dürfen nie überflüssig, pkl_143.002
noch weniger störend erscheinen. Aus der Art pkl_143.003
ihrer Handlungsweise muß sich der Leser ebenfalls ein pkl_143.004
bestimmtes Gemälde ihres Charakters entwerfen können pkl_143.005
und in diesem Charakter müssen zugleich — wie pkl_143.006
natürlich auch in dem des Helden — die Motive der pkl_143.007
Handlungen vollständig begründet sein. — Uebrigens ist pkl_143.008
es nach unserem Bedünken auch nicht fehlerhaft, wenn der pkl_143.009
Hauptpersonen, von ziemlich gleicher Wichtigkeit, in pkl_143.010
einem Epos mehrere sind; nur ist es dann — der pkl_143.011
erforderlichen Einheit des Ganzen wegen — um so pkl_143.012
unerläßlicher, daß Alle in engem Bezug zur großen pkl_143.013
Hauptbegebenheit (Katastrophe) stehen, indem sie theils pkl_143.014
dieselbe beschleunigen, theils sie (vergeblich) zu verhindern pkl_143.015
suchen; — gleich das erste und noch unerreichte pkl_143.016
Muster im Fache des Epos, die Jlias des Homer, ist pkl_143.017
dieser Art.

pkl_143.018

§. 205. Was die Behandlung des Stoffs angeht, pkl_143.019
so liegt es im Wesen und in der Bestimmung pkl_143.020
des Epos, daß es dabei nicht sowohl (wie beim Roman) pkl_143.021
auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung, sondern pkl_143.022
hauptsächlich auf lebendige Veranschaulichung pkl_143.023
ankommt. Das Epos geht in die Breite, die einzelnen pkl_143.024
Züge seines Gesammtbildes brauchen nicht in ununterbrochener pkl_143.025
Reihe neben einander, sondern können zerstreut pkl_143.026
liegen; nur müssen sie sich zu einer Anschauung pkl_143.027
vereinigen lassen. Das Epos kann darum auch nicht pkl_143.028
einseitig auf eine Empfindung wirken; es ergreift die pkl_143.029
Gesammtheit unserer Kräfte und gestattet weder lyrische pkl_143.030
Erreglichkeit, noch überhaupt Aufregung der Leidenschaften. pkl_143.031
„Wir empfangen die Eindrücke der Dichtung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0169" n="143"/><lb n="pkl_143.001"/>
zum Ganzen noch so unbedeutend, dürfen nie überflüssig, <lb n="pkl_143.002"/>
noch weniger störend erscheinen. Aus der Art <lb n="pkl_143.003"/>
ihrer Handlungsweise muß sich der Leser ebenfalls ein <lb n="pkl_143.004"/>
bestimmtes Gemälde ihres Charakters entwerfen können <lb n="pkl_143.005"/>
und in diesem Charakter müssen zugleich &#x2014; wie <lb n="pkl_143.006"/>
natürlich auch in dem des Helden &#x2014; die <hi rendition="#g">Motive</hi> der <lb n="pkl_143.007"/>
Handlungen vollständig begründet sein. &#x2014; Uebrigens ist <lb n="pkl_143.008"/>
es nach unserem Bedünken auch nicht fehlerhaft, wenn der <lb n="pkl_143.009"/>
Hauptpersonen, von ziemlich gleicher Wichtigkeit, in <lb n="pkl_143.010"/>
einem Epos <hi rendition="#g">mehrere</hi> sind; nur ist es dann &#x2014; der <lb n="pkl_143.011"/>
erforderlichen Einheit des Ganzen wegen &#x2014; um so <lb n="pkl_143.012"/>
unerläßlicher, daß Alle in engem Bezug zur großen <lb n="pkl_143.013"/>
Hauptbegebenheit (Katastrophe) stehen, indem sie theils <lb n="pkl_143.014"/>
dieselbe beschleunigen, theils sie (vergeblich) zu verhindern <lb n="pkl_143.015"/>
suchen; &#x2014; gleich das erste und noch unerreichte <lb n="pkl_143.016"/>
Muster im Fache des Epos, die Jlias des <hi rendition="#g">Homer,</hi> ist <lb n="pkl_143.017"/>
dieser Art.</p>
              <lb n="pkl_143.018"/>
              <p>  §. 205. Was die <hi rendition="#g">Behandlung</hi> des Stoffs angeht, <lb n="pkl_143.019"/>
so liegt es im Wesen und in der Bestimmung <lb n="pkl_143.020"/>
des Epos, daß es dabei nicht sowohl (wie beim Roman) <lb n="pkl_143.021"/>
auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung, sondern <lb n="pkl_143.022"/>
hauptsächlich auf <hi rendition="#g">lebendige Veranschaulichung</hi> <lb n="pkl_143.023"/>
ankommt. Das Epos geht in die Breite, die einzelnen <lb n="pkl_143.024"/>
Züge seines Gesammtbildes brauchen nicht in ununterbrochener <lb n="pkl_143.025"/>
Reihe neben einander, sondern können zerstreut <lb n="pkl_143.026"/>
liegen; nur müssen sie sich zu einer Anschauung <lb n="pkl_143.027"/>
vereinigen lassen. Das Epos kann darum auch nicht <lb n="pkl_143.028"/>
einseitig auf eine Empfindung wirken; es ergreift die <lb n="pkl_143.029"/>
Gesammtheit unserer Kräfte und gestattet weder lyrische <lb n="pkl_143.030"/>
Erreglichkeit, noch überhaupt Aufregung der Leidenschaften. <lb n="pkl_143.031"/>
&#x201E;Wir empfangen die Eindrücke der Dichtung
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0169] pkl_143.001 zum Ganzen noch so unbedeutend, dürfen nie überflüssig, pkl_143.002 noch weniger störend erscheinen. Aus der Art pkl_143.003 ihrer Handlungsweise muß sich der Leser ebenfalls ein pkl_143.004 bestimmtes Gemälde ihres Charakters entwerfen können pkl_143.005 und in diesem Charakter müssen zugleich — wie pkl_143.006 natürlich auch in dem des Helden — die Motive der pkl_143.007 Handlungen vollständig begründet sein. — Uebrigens ist pkl_143.008 es nach unserem Bedünken auch nicht fehlerhaft, wenn der pkl_143.009 Hauptpersonen, von ziemlich gleicher Wichtigkeit, in pkl_143.010 einem Epos mehrere sind; nur ist es dann — der pkl_143.011 erforderlichen Einheit des Ganzen wegen — um so pkl_143.012 unerläßlicher, daß Alle in engem Bezug zur großen pkl_143.013 Hauptbegebenheit (Katastrophe) stehen, indem sie theils pkl_143.014 dieselbe beschleunigen, theils sie (vergeblich) zu verhindern pkl_143.015 suchen; — gleich das erste und noch unerreichte pkl_143.016 Muster im Fache des Epos, die Jlias des Homer, ist pkl_143.017 dieser Art. pkl_143.018 §. 205. Was die Behandlung des Stoffs angeht, pkl_143.019 so liegt es im Wesen und in der Bestimmung pkl_143.020 des Epos, daß es dabei nicht sowohl (wie beim Roman) pkl_143.021 auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung, sondern pkl_143.022 hauptsächlich auf lebendige Veranschaulichung pkl_143.023 ankommt. Das Epos geht in die Breite, die einzelnen pkl_143.024 Züge seines Gesammtbildes brauchen nicht in ununterbrochener pkl_143.025 Reihe neben einander, sondern können zerstreut pkl_143.026 liegen; nur müssen sie sich zu einer Anschauung pkl_143.027 vereinigen lassen. Das Epos kann darum auch nicht pkl_143.028 einseitig auf eine Empfindung wirken; es ergreift die pkl_143.029 Gesammtheit unserer Kräfte und gestattet weder lyrische pkl_143.030 Erreglichkeit, noch überhaupt Aufregung der Leidenschaften. pkl_143.031 „Wir empfangen die Eindrücke der Dichtung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/169
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/169>, abgerufen am 21.11.2024.