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Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

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2)

Des Herbstes mag sich freun', | was eine Frucht getragen, pkl_022.002
Da, was nur Blätter trug |, vor seinem Hauch muß zagen.
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Rückert.

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Anmerkung. Der Name "Alexandriner" rührt nach pkl_022.005
Einigen von einem im dreizehnten Jahrhundert in Paris erschienenen pkl_022.006
Gedicht, das die Geschichte Alexanders des Großen pkl_022.007
zum Gegenstand hat, oder nach Anderen von einem der Verfasser pkl_022.008
dieses Gedichts, dem Mönch Alexander her.

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§. 30. 3) als der sogenannte neuere Nibelungenvers. pkl_022.010
Derselbe unterscheidet sich dadurch vom pkl_022.011
Alexandriner, daß er nach der dritten betonten Silbe pkl_022.012
noch eine überzählige tonlose hat, auf welcher unmittelbar pkl_022.013
die Cäsur folgt. -- (Mit demselben Rechte läßt sich pkl_022.014
die erwähnte überzählige Silbe in Verbindung mit pkl_022.015
dem vierten Fuß als Anapäst betrachten.) Es ist merkwürdig, pkl_022.016
welche große Verwandlung die Eine Silbe pkl_022.017
hervorbringt: dieser Nibelungenvers gehört zu den pkl_022.018
wohlklingendsten und geschmeidigsten, die es giebt.

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Beispiel:

pkl_022.020

Jst denn im Schwabenlande | verschollen aller Sang, pkl_022.021
Wo einst so hell vom Staufen | die Ritterharfe klang? pkl_022.022
Und wenn er nicht verschollen |, warum vergißt er ganz pkl_022.023
Der tapfern Väter Thaten, | der alten Waffen Glanz?
pkl_022.024
Uhland.

pkl_022.025

Anmerkung. Der ältere oder eigentliche Nibelungenvers pkl_022.026
zählt gewöhnlich ebenfalls sechs Hebungen pkl_022.027
(der letzte Vers der vierzeiligen Strophe auch häufig sieben oder pkl_022.028
acht). Die Senkungen oder tonlosen Silben wechseln jedoch pkl_022.029
ganz unregelmäßig mit den Hebungen ab, so daß dieser Vers pkl_022.030
keineswegs einen rein jambischen, sondern einen gemischten pkl_022.031
Charakter hat. Die Cäsur fällt aber auch hier regelmäßig pkl_022.032
zwischen die dritte und vierte Hebung und ist ebenfalls weiblich. pkl_022.033
Sofern, wie häufig der Fall ist, auch der neuere Nibelungenvers pkl_022.034
an verschiedenen Stellen Anapäste (mitunter auch wohl pkl_022.035
Spondeen) statt Jamben enthält, stellt er sich ebenfalls in die pkl_022.036
Klasse der gemischten Verse.

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2)

Des Herbstes mag sich freun', | was eine Frucht getragen, pkl_022.002
Da, was nur Blätter trug |, vor seinem Hauch muß zagen.
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Rückert.

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Anmerkung. Der Name „Alexandriner“ rührt nach pkl_022.005
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Derselbe unterscheidet sich dadurch vom pkl_022.011
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wohlklingendsten und geschmeidigsten, die es giebt.

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Beispiel:

pkl_022.020

Jst denn im Schwabenlande | verschollen aller Sang, pkl_022.021
Wo einst so hell vom Staufen | die Ritterharfe klang? pkl_022.022
Und wenn er nicht verschollen |, warum vergißt er ganz pkl_022.023
Der tapfern Väter Thaten, | der alten Waffen Glanz?
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[22/0048] pkl_022.001 2) Des Herbstes mag sich freun', | was eine Frucht getragen, pkl_022.002 Da, was nur Blätter trug |, vor seinem Hauch muß zagen. pkl_022.003 Rückert. pkl_022.004 Anmerkung. Der Name „Alexandriner“ rührt nach pkl_022.005 Einigen von einem im dreizehnten Jahrhundert in Paris erschienenen pkl_022.006 Gedicht, das die Geschichte Alexanders des Großen pkl_022.007 zum Gegenstand hat, oder nach Anderen von einem der Verfasser pkl_022.008 dieses Gedichts, dem Mönch Alexander her. pkl_022.009 §. 30. 3) als der sogenannte neuere Nibelungenvers. pkl_022.010 Derselbe unterscheidet sich dadurch vom pkl_022.011 Alexandriner, daß er nach der dritten betonten Silbe pkl_022.012 noch eine überzählige tonlose hat, auf welcher unmittelbar pkl_022.013 die Cäsur folgt. — (Mit demselben Rechte läßt sich pkl_022.014 die erwähnte überzählige Silbe in Verbindung mit pkl_022.015 dem vierten Fuß als Anapäst betrachten.) Es ist merkwürdig, pkl_022.016 welche große Verwandlung die Eine Silbe pkl_022.017 hervorbringt: dieser Nibelungenvers gehört zu den pkl_022.018 wohlklingendsten und geschmeidigsten, die es giebt. pkl_022.019 Beispiel: pkl_022.020 Jst denn im Schwabenlande | verschollen aller Sang, pkl_022.021 Wo einst so hell vom Staufen | die Ritterharfe klang? pkl_022.022 Und wenn er nicht verschollen |, warum vergißt er ganz pkl_022.023 Der tapfern Väter Thaten, | der alten Waffen Glanz? pkl_022.024 Uhland. pkl_022.025 Anmerkung. Der ältere oder eigentliche Nibelungenvers pkl_022.026 zählt gewöhnlich ebenfalls sechs Hebungen pkl_022.027 (der letzte Vers der vierzeiligen Strophe auch häufig sieben oder pkl_022.028 acht). Die Senkungen oder tonlosen Silben wechseln jedoch pkl_022.029 ganz unregelmäßig mit den Hebungen ab, so daß dieser Vers pkl_022.030 keineswegs einen rein jambischen, sondern einen gemischten pkl_022.031 Charakter hat. Die Cäsur fällt aber auch hier regelmäßig pkl_022.032 zwischen die dritte und vierte Hebung und ist ebenfalls weiblich. pkl_022.033 Sofern, wie häufig der Fall ist, auch der neuere Nibelungenvers pkl_022.034 an verschiedenen Stellen Anapäste (mitunter auch wohl pkl_022.035 Spondeen) statt Jamben enthält, stellt er sich ebenfalls in die pkl_022.036 Klasse der gemischten Verse.

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Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/48>, abgerufen am 26.04.2024.