Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
pkl_046.001

5) unterbrochene. pkl_046.002

Weil' auf mir, du dunkles Auge, pkl_046.003
Uebe deine ganze Macht, pkl_046.004
Ernste, milde, träumerische, pkl_046.005
Unergründlich süße Nacht!
pkl_046.006
Lenau.

pkl_046.007

§. 64. Jn den ältesten poetischen Produkten pkl_046.008
unserer Sprache finden wir mehr die Alliteration, als pkl_046.009
den eigentlichen Reim angewendet. Später aber trat pkl_046.010
die erstere sehr zurück: der Reim (im engern Sinne) pkl_046.011
wurde fast allein angewendet und mit seiner Ausbildung pkl_046.012
wuchs die Bedeutung, welche man ihm beimaaß. pkl_046.013
Er galt als ein so wesentliches Erforderniß pkl_046.014
poetischer Produkte, daß nur das Poesie genannt pkl_046.015
wurde, was reimte. (Und bis auf den heutigen Tag pkl_046.016
finden sich der "Gebildeten" viele, die da meinen, nur pkl_046.017
im Reime liege der Unterschied zwischen Poesie und pkl_046.018
Prosa: was sich reime, sei poetisch, was nicht reime, pkl_046.019
gehöre der Prosa an.) Jn der letzten Hälfte des vorigen pkl_046.020
Jahrhunderts, als namentlich durch Klopstock die pkl_046.021
antiken Versmaaße in die deutsche Metrik eingeführt, pkl_046.022
und vorherrschend gebraucht wurden, fielen manche -- pkl_046.023
und unter ihnen namhafte Dichter -- ins Extrem pkl_046.024
und erklärten den Reim nicht nur für ein entbehrliches, pkl_046.025
sondern sogar für ein der wahren Poesie nachtheiliges pkl_046.026
Element. Man betrachtete ihn nur als eine Spielerei, pkl_046.027
die zum Kitzel des Ohrs diene, aber für die darzustellenden pkl_046.028
poetischen Gedanken gar leicht zum spanischen pkl_046.029
Stiefel, zum Prokrustesbett werde. Unsere größten pkl_046.030
Dichter der neuern Zeit huldigen weder dem einen, pkl_046.031
noch dem andern Extrem. Jhnen ist der Reim pkl_046.032
eben so wenig ein unbedingt nöthiges, wesentliches

pkl_046.001

5) unterbrochene. pkl_046.002

Weil' auf mir, du dunkles Auge, pkl_046.003
Uebe deine ganze Macht, pkl_046.004
Ernste, milde, träumerische, pkl_046.005
Unergründlich süße Nacht!
pkl_046.006
Lenau.

pkl_046.007

§. 64. Jn den ältesten poetischen Produkten pkl_046.008
unserer Sprache finden wir mehr die Alliteration, als pkl_046.009
den eigentlichen Reim angewendet. Später aber trat pkl_046.010
die erstere sehr zurück: der Reim (im engern Sinne) pkl_046.011
wurde fast allein angewendet und mit seiner Ausbildung pkl_046.012
wuchs die Bedeutung, welche man ihm beimaaß. pkl_046.013
Er galt als ein so wesentliches Erforderniß pkl_046.014
poetischer Produkte, daß nur das Poesie genannt pkl_046.015
wurde, was reimte. (Und bis auf den heutigen Tag pkl_046.016
finden sich der „Gebildeten“ viele, die da meinen, nur pkl_046.017
im Reime liege der Unterschied zwischen Poesie und pkl_046.018
Prosa: was sich reime, sei poetisch, was nicht reime, pkl_046.019
gehöre der Prosa an.) Jn der letzten Hälfte des vorigen pkl_046.020
Jahrhunderts, als namentlich durch Klopstock die pkl_046.021
antiken Versmaaße in die deutsche Metrik eingeführt, pkl_046.022
und vorherrschend gebraucht wurden, fielen manche — pkl_046.023
und unter ihnen namhafte Dichter — ins Extrem pkl_046.024
und erklärten den Reim nicht nur für ein entbehrliches, pkl_046.025
sondern sogar für ein der wahren Poesie nachtheiliges pkl_046.026
Element. Man betrachtete ihn nur als eine Spielerei, pkl_046.027
die zum Kitzel des Ohrs diene, aber für die darzustellenden pkl_046.028
poetischen Gedanken gar leicht zum spanischen pkl_046.029
Stiefel, zum Prokrustesbett werde. Unsere größten pkl_046.030
Dichter der neuern Zeit huldigen weder dem einen, pkl_046.031
noch dem andern Extrem. Jhnen ist der Reim pkl_046.032
eben so wenig ein unbedingt nöthiges, wesentliches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0072" n="46"/>
            <lb n="pkl_046.001"/>
            <p>5) <hi rendition="#g">unterbrochene.</hi> <lb n="pkl_046.002"/>
<lg><l>Weil' auf mir, du dunkles Auge,</l><lb n="pkl_046.003"/><l>Uebe deine ganze Macht,</l><lb n="pkl_046.004"/><l>Ernste, milde, träumerische,</l><lb n="pkl_046.005"/><l>Unergründlich süße Nacht!</l></lg> <lb n="pkl_046.006"/> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Lenau</hi>.</hi></p>
            <lb n="pkl_046.007"/>
            <p>  §. 64. Jn den ältesten poetischen Produkten <lb n="pkl_046.008"/>
unserer Sprache finden wir mehr die Alliteration, als <lb n="pkl_046.009"/>
den eigentlichen Reim angewendet. Später aber trat <lb n="pkl_046.010"/>
die erstere sehr zurück: der Reim (im engern Sinne) <lb n="pkl_046.011"/>
wurde fast allein angewendet und mit seiner Ausbildung <lb n="pkl_046.012"/>
wuchs die Bedeutung, welche man ihm beimaaß. <lb n="pkl_046.013"/>
Er galt als ein so wesentliches Erforderniß <lb n="pkl_046.014"/>
poetischer Produkte, daß nur das Poesie genannt <lb n="pkl_046.015"/>
wurde, was reimte. (Und bis auf den heutigen Tag <lb n="pkl_046.016"/>
finden sich der &#x201E;Gebildeten&#x201C; viele, die da meinen, nur <lb n="pkl_046.017"/>
im Reime liege der Unterschied zwischen Poesie und <lb n="pkl_046.018"/>
Prosa: was sich reime, sei poetisch, was nicht reime, <lb n="pkl_046.019"/>
gehöre der Prosa an.) Jn der letzten Hälfte des vorigen <lb n="pkl_046.020"/>
Jahrhunderts, als namentlich durch <hi rendition="#g">Klopstock</hi> die <lb n="pkl_046.021"/>
antiken Versmaaße in die deutsche Metrik eingeführt, <lb n="pkl_046.022"/>
und vorherrschend gebraucht wurden, fielen manche &#x2014; <lb n="pkl_046.023"/>
und unter ihnen namhafte Dichter &#x2014; ins Extrem <lb n="pkl_046.024"/>
und erklärten den Reim nicht nur für ein entbehrliches, <lb n="pkl_046.025"/>
sondern sogar für ein der wahren Poesie nachtheiliges <lb n="pkl_046.026"/>
Element. Man betrachtete ihn nur als eine Spielerei, <lb n="pkl_046.027"/>
die zum Kitzel des Ohrs diene, aber für die darzustellenden <lb n="pkl_046.028"/>
poetischen Gedanken gar leicht zum spanischen <lb n="pkl_046.029"/>
Stiefel, zum Prokrustesbett werde. Unsere größten <lb n="pkl_046.030"/>
Dichter der neuern Zeit huldigen weder dem einen, <lb n="pkl_046.031"/>
noch dem andern Extrem. Jhnen ist der Reim <lb n="pkl_046.032"/>
eben so wenig ein unbedingt nöthiges, wesentliches
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0072] pkl_046.001 5) unterbrochene. pkl_046.002 Weil' auf mir, du dunkles Auge, pkl_046.003 Uebe deine ganze Macht, pkl_046.004 Ernste, milde, träumerische, pkl_046.005 Unergründlich süße Nacht! pkl_046.006 Lenau. pkl_046.007 §. 64. Jn den ältesten poetischen Produkten pkl_046.008 unserer Sprache finden wir mehr die Alliteration, als pkl_046.009 den eigentlichen Reim angewendet. Später aber trat pkl_046.010 die erstere sehr zurück: der Reim (im engern Sinne) pkl_046.011 wurde fast allein angewendet und mit seiner Ausbildung pkl_046.012 wuchs die Bedeutung, welche man ihm beimaaß. pkl_046.013 Er galt als ein so wesentliches Erforderniß pkl_046.014 poetischer Produkte, daß nur das Poesie genannt pkl_046.015 wurde, was reimte. (Und bis auf den heutigen Tag pkl_046.016 finden sich der „Gebildeten“ viele, die da meinen, nur pkl_046.017 im Reime liege der Unterschied zwischen Poesie und pkl_046.018 Prosa: was sich reime, sei poetisch, was nicht reime, pkl_046.019 gehöre der Prosa an.) Jn der letzten Hälfte des vorigen pkl_046.020 Jahrhunderts, als namentlich durch Klopstock die pkl_046.021 antiken Versmaaße in die deutsche Metrik eingeführt, pkl_046.022 und vorherrschend gebraucht wurden, fielen manche — pkl_046.023 und unter ihnen namhafte Dichter — ins Extrem pkl_046.024 und erklärten den Reim nicht nur für ein entbehrliches, pkl_046.025 sondern sogar für ein der wahren Poesie nachtheiliges pkl_046.026 Element. Man betrachtete ihn nur als eine Spielerei, pkl_046.027 die zum Kitzel des Ohrs diene, aber für die darzustellenden pkl_046.028 poetischen Gedanken gar leicht zum spanischen pkl_046.029 Stiefel, zum Prokrustesbett werde. Unsere größten pkl_046.030 Dichter der neuern Zeit huldigen weder dem einen, pkl_046.031 noch dem andern Extrem. Jhnen ist der Reim pkl_046.032 eben so wenig ein unbedingt nöthiges, wesentliches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/72
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/72>, abgerufen am 05.05.2024.