Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
pkl_072.001

Wie aus Sonnen saugt sein Leben; pkl_072.002
Wenn die Sonnen ihm entschweben pkl_072.003
Jn die lange Nacht, den Tod, pkl_072.004
Leuchtet ihm kein Morgenroth; pkl_072.005
Doch so lang die Augen funkeln, pkl_072.006
Mag auch Untreu sie verdunkeln, pkl_072.007
Leben kann es doch zur Noth.
pkl_072.008
4) Endlich, wer mit solchen Flammen
pkl_072.009
Liebt, wie ich zwar selber nicht, pkl_072.010
Daß er denkt, was heut' zerbricht, pkl_072.011
Wächst auf Morgen neu zusammen, pkl_072.012
Der verschmerzt des Treubruchs Schrammen pkl_072.013
Leicht aus Hoffnung zum Versuch, pkl_072.014
Ob sich heilen läßt der Bruch; pkl_072.015
Aber mit gebrochnen Herzen pkl_072.016
Läßt sich ganz und gar nicht scherzen; pkl_072.017
Drum: Eh'r falsch als todt! mein Spruch.
pkl_072.018
Rückert.

pkl_072.019

§. 108. Eine, besonders zu kleinen Gelegenheitsgedichten pkl_072.020
häufig gebrauchte Form ist das Akrostichon. pkl_072.021
Das Eigenthümliche desselben besteht darin, daß die pkl_072.022
Anfangsbuchstaben der Verse unter sich ein Wort oder pkl_072.023
mehrere Worte bilden, zu welchem der Jnhalt des Ganzen pkl_072.024
in einiger Beziehung steht.

pkl_072.025

Beispiel:

pkl_072.026

Der Morgen. pkl_072.027

Morgen wird es in der Natur, pkl_072.028
Alles athmet erfrischt und beglückt; pkl_072.029
Thau hat jede Blume der Flur, pkl_072.030
Hat den Wald und das Feld beglückt.
pkl_072.031
In dem Dunkel, wie schien voll Grauen
pkl_072.032
Lang mir die Nacht, ohne Himmel und Licht! pkl_072.033
Doch du kamst -- o nun laß mich schauen pkl_072.034
Ewig dein liebliches Angesicht!

pkl_072.035

§. 109. Das Gasel ist eine, erst in neuester Zeit pkl_072.036
nach orientalischen (persischen) Vorbildern durch Rückert

pkl_072.001

Wie aus Sonnen saugt sein Leben; pkl_072.002
Wenn die Sonnen ihm entschweben pkl_072.003
Jn die lange Nacht, den Tod, pkl_072.004
Leuchtet ihm kein Morgenroth; pkl_072.005
Doch so lang die Augen funkeln, pkl_072.006
Mag auch Untreu sie verdunkeln, pkl_072.007
Leben kann es doch zur Noth.
pkl_072.008
4) Endlich, wer mit solchen Flammen
pkl_072.009
Liebt, wie ich zwar selber nicht, pkl_072.010
Daß er denkt, was heut' zerbricht, pkl_072.011
Wächst auf Morgen neu zusammen, pkl_072.012
Der verschmerzt des Treubruchs Schrammen pkl_072.013
Leicht aus Hoffnung zum Versuch, pkl_072.014
Ob sich heilen läßt der Bruch; pkl_072.015
Aber mit gebrochnen Herzen pkl_072.016
Läßt sich ganz und gar nicht scherzen; pkl_072.017
Drum: Eh'r falsch als todt! mein Spruch.
pkl_072.018
Rückert.

pkl_072.019

§. 108. Eine, besonders zu kleinen Gelegenheitsgedichten pkl_072.020
häufig gebrauchte Form ist das Akrostichon. pkl_072.021
Das Eigenthümliche desselben besteht darin, daß die pkl_072.022
Anfangsbuchstaben der Verse unter sich ein Wort oder pkl_072.023
mehrere Worte bilden, zu welchem der Jnhalt des Ganzen pkl_072.024
in einiger Beziehung steht.

pkl_072.025

Beispiel:

pkl_072.026

Der Morgen. pkl_072.027

Morgen wird es in der Natur, pkl_072.028
Alles athmet erfrischt und beglückt; pkl_072.029
Thau hat jede Blume der Flur, pkl_072.030
Hat den Wald und das Feld beglückt.
pkl_072.031
In dem Dunkel, wie schien voll Grauen
pkl_072.032
Lang mir die Nacht, ohne Himmel und Licht! pkl_072.033
Doch du kamst — o nun laß mich schauen pkl_072.034
Ewig dein liebliches Angesicht!

pkl_072.035

§. 109. Das Gasel ist eine, erst in neuester Zeit pkl_072.036
nach orientalischen (persischen) Vorbildern durch Rückert

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0098" n="72"/>
              <lb n="pkl_072.001"/>
              <p>
                <lg>
                  <l>Wie aus Sonnen saugt sein Leben;</l>
                  <lb n="pkl_072.002"/>
                  <l>Wenn die Sonnen ihm entschweben</l>
                  <lb n="pkl_072.003"/>
                  <l>Jn die lange Nacht, den Tod,</l>
                  <lb n="pkl_072.004"/>
                  <l>Leuchtet ihm kein Morgenroth;</l>
                  <lb n="pkl_072.005"/>
                  <l>Doch so lang die Augen funkeln,</l>
                  <lb n="pkl_072.006"/>
                  <l>Mag auch Untreu sie verdunkeln,</l>
                  <lb n="pkl_072.007"/>
                  <l>Leben kann es doch zur Noth. </l>
                </lg>
                <lg>
                  <l><lb n="pkl_072.008"/>
4) Endlich, wer mit solchen Flammen</l>
                  <lb n="pkl_072.009"/>
                  <l>Liebt, wie ich zwar selber nicht,</l>
                  <lb n="pkl_072.010"/>
                  <l>Daß er denkt, was heut' zerbricht,</l>
                  <lb n="pkl_072.011"/>
                  <l>Wächst auf Morgen neu zusammen,</l>
                  <lb n="pkl_072.012"/>
                  <l>Der verschmerzt des Treubruchs Schrammen</l>
                  <lb n="pkl_072.013"/>
                  <l>Leicht aus Hoffnung zum Versuch,</l>
                  <lb n="pkl_072.014"/>
                  <l>Ob sich heilen läßt der Bruch;</l>
                  <lb n="pkl_072.015"/>
                  <l>Aber mit gebrochnen Herzen</l>
                  <lb n="pkl_072.016"/>
                  <l>Läßt sich ganz und gar nicht scherzen;</l>
                  <lb n="pkl_072.017"/>
                  <l>Drum: Eh'r falsch als todt! mein Spruch.</l>
                </lg>
                <lb n="pkl_072.018"/> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Rückert</hi>.</hi> </p>
              <lb n="pkl_072.019"/>
              <p>  §. 108. Eine, besonders zu kleinen Gelegenheitsgedichten <lb n="pkl_072.020"/>
häufig gebrauchte Form ist das <hi rendition="#g">Akrostichon.</hi> <lb n="pkl_072.021"/>
Das Eigenthümliche desselben besteht darin, daß die <lb n="pkl_072.022"/>
Anfangsbuchstaben der Verse unter sich ein Wort oder <lb n="pkl_072.023"/>
mehrere Worte bilden, zu welchem der Jnhalt des Ganzen <lb n="pkl_072.024"/>
in einiger Beziehung steht.</p>
              <lb n="pkl_072.025"/>
              <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Beispiel</hi>:</hi> </p>
              <lb n="pkl_072.026"/>
              <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Morgen</hi>.</hi> <lb n="pkl_072.027"/>
                <lg>
                  <l><hi rendition="#aq">M</hi>orgen wird es in der Natur,</l>
                  <lb n="pkl_072.028"/>
                  <l><hi rendition="#aq">A</hi>lles athmet erfrischt und beglückt;</l>
                  <lb n="pkl_072.029"/>
                  <l><hi rendition="#aq">T</hi>hau hat jede Blume der Flur,</l>
                  <lb n="pkl_072.030"/>
                  <l><hi rendition="#aq">H</hi>at den Wald und das Feld beglückt. </l>
                </lg>
                <lg>
                  <l><lb n="pkl_072.031"/><hi rendition="#aq">I</hi>n dem Dunkel, wie schien voll Grauen</l>
                  <lb n="pkl_072.032"/>
                  <l><hi rendition="#aq">L</hi>ang mir die Nacht, ohne Himmel und Licht!</l>
                  <lb n="pkl_072.033"/>
                  <l><hi rendition="#aq">D</hi>och du kamst &#x2014; o nun laß mich schauen</l>
                  <lb n="pkl_072.034"/>
                  <l><hi rendition="#aq">E</hi>wig dein liebliches Angesicht!</l>
                </lg>
              </p>
              <lb n="pkl_072.035"/>
              <p>  §. 109. <hi rendition="#g">Das Gasel</hi> ist eine, erst in neuester Zeit <lb n="pkl_072.036"/>
nach orientalischen (persischen) Vorbildern durch <hi rendition="#g">Rückert</hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0098] pkl_072.001 Wie aus Sonnen saugt sein Leben; pkl_072.002 Wenn die Sonnen ihm entschweben pkl_072.003 Jn die lange Nacht, den Tod, pkl_072.004 Leuchtet ihm kein Morgenroth; pkl_072.005 Doch so lang die Augen funkeln, pkl_072.006 Mag auch Untreu sie verdunkeln, pkl_072.007 Leben kann es doch zur Noth. pkl_072.008 4) Endlich, wer mit solchen Flammen pkl_072.009 Liebt, wie ich zwar selber nicht, pkl_072.010 Daß er denkt, was heut' zerbricht, pkl_072.011 Wächst auf Morgen neu zusammen, pkl_072.012 Der verschmerzt des Treubruchs Schrammen pkl_072.013 Leicht aus Hoffnung zum Versuch, pkl_072.014 Ob sich heilen läßt der Bruch; pkl_072.015 Aber mit gebrochnen Herzen pkl_072.016 Läßt sich ganz und gar nicht scherzen; pkl_072.017 Drum: Eh'r falsch als todt! mein Spruch. pkl_072.018 Rückert. pkl_072.019 §. 108. Eine, besonders zu kleinen Gelegenheitsgedichten pkl_072.020 häufig gebrauchte Form ist das Akrostichon. pkl_072.021 Das Eigenthümliche desselben besteht darin, daß die pkl_072.022 Anfangsbuchstaben der Verse unter sich ein Wort oder pkl_072.023 mehrere Worte bilden, zu welchem der Jnhalt des Ganzen pkl_072.024 in einiger Beziehung steht. pkl_072.025 Beispiel: pkl_072.026 Der Morgen. pkl_072.027 Morgen wird es in der Natur, pkl_072.028 Alles athmet erfrischt und beglückt; pkl_072.029 Thau hat jede Blume der Flur, pkl_072.030 Hat den Wald und das Feld beglückt. pkl_072.031 In dem Dunkel, wie schien voll Grauen pkl_072.032 Lang mir die Nacht, ohne Himmel und Licht! pkl_072.033 Doch du kamst — o nun laß mich schauen pkl_072.034 Ewig dein liebliches Angesicht! pkl_072.035 §. 109. Das Gasel ist eine, erst in neuester Zeit pkl_072.036 nach orientalischen (persischen) Vorbildern durch Rückert

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/98
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/98>, abgerufen am 22.11.2024.