Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

meine Absicht ist, Port au Prince zu erreichen, bevor es dem General Dessalines noch gelungen ist, es mit den Truppen, die er anführt, einzuschließen und zu belagern. -- Von Fort Dauphin! rief die Alte. Und es ist Euch mit Eurer Gesichtsfarbe geglückt, diesen ungeheuren Weg mitten durch ein in Empörung begriffenes Mohrenland zurückzulegen? -- Gott und alle Heiligen, erwiderte der Fremde, haben mich beschützt! Und ich bin nicht allein, gutes Mütterchen; in meinem Gefolge, das ich zurückgelassen, befindet sich ein ehrwürdiger alter Greis, mein Oheim, mit seiner Gemahlin und fünf Kindern; mehrere Bediente und Mägde, die zur Familie gehören, nicht zu erwähnen; ein Troß von zwölf Menschen, den ich mit Hülfe zweier elenden Maulesel in unsäglich mühevollen Nachtwanderungen, da wir uns bei Tage auf der Heerstraße nicht zeigen dürfen, mit mir fortführen muß. -- Ei, mein Himmel! rief die Alte, indem sie unter mitleidigem Kopfschütteln eine Prise Tabak nahm. Wo befindet sich denn in diesem Augenblicke Eure Reisegesellschaft? -- Euch, versetzte der Fremde, nachdem er sich ein wenig besonnen hatte, Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen. Die Familie befindet sich, daß Ihr es wißt, eine Meile von hier, zunächst dem Möwenweiher, in der Wildniß der angrenzenden Gebirgswaldung; Hunger und Durst zwangen uns vorgestern diese Zuflucht aufzusuchen. Vergebens schickten wir in der verflossenen Nacht unsere Bedienten

meine Absicht ist, Port au Prince zu erreichen, bevor es dem General Dessalines noch gelungen ist, es mit den Truppen, die er anführt, einzuschließen und zu belagern. — Von Fort Dauphin! rief die Alte. Und es ist Euch mit Eurer Gesichtsfarbe geglückt, diesen ungeheuren Weg mitten durch ein in Empörung begriffenes Mohrenland zurückzulegen? — Gott und alle Heiligen, erwiderte der Fremde, haben mich beschützt! Und ich bin nicht allein, gutes Mütterchen; in meinem Gefolge, das ich zurückgelassen, befindet sich ein ehrwürdiger alter Greis, mein Oheim, mit seiner Gemahlin und fünf Kindern; mehrere Bediente und Mägde, die zur Familie gehören, nicht zu erwähnen; ein Troß von zwölf Menschen, den ich mit Hülfe zweier elenden Maulesel in unsäglich mühevollen Nachtwanderungen, da wir uns bei Tage auf der Heerstraße nicht zeigen dürfen, mit mir fortführen muß. — Ei, mein Himmel! rief die Alte, indem sie unter mitleidigem Kopfschütteln eine Prise Tabak nahm. Wo befindet sich denn in diesem Augenblicke Eure Reisegesellschaft? — Euch, versetzte der Fremde, nachdem er sich ein wenig besonnen hatte, Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen. Die Familie befindet sich, daß Ihr es wißt, eine Meile von hier, zunächst dem Möwenweiher, in der Wildniß der angrenzenden Gebirgswaldung; Hunger und Durst zwangen uns vorgestern diese Zuflucht aufzusuchen. Vergebens schickten wir in der verflossenen Nacht unsere Bedienten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016"/>
meine Absicht ist,                Port au Prince zu erreichen, bevor es dem General Dessalines noch gelungen ist, es                mit den Truppen, die er anführt, einzuschließen und zu belagern. &#x2014; Von Fort Dauphin!                rief die Alte. Und es ist Euch mit Eurer Gesichtsfarbe geglückt, diesen ungeheuren                Weg mitten durch ein in Empörung begriffenes Mohrenland zurückzulegen? &#x2014; Gott und                alle Heiligen, erwiderte der Fremde, haben mich beschützt! Und ich bin nicht allein,                gutes Mütterchen; in meinem Gefolge, das ich zurückgelassen, befindet sich ein                ehrwürdiger alter Greis, mein Oheim, mit seiner Gemahlin und fünf Kindern; mehrere                Bediente und Mägde, die zur Familie gehören, nicht zu erwähnen; ein Troß von zwölf                Menschen, den ich mit Hülfe zweier elenden Maulesel in unsäglich mühevollen                Nachtwanderungen, da wir uns bei Tage auf der Heerstraße nicht zeigen dürfen, mit mir                fortführen muß. &#x2014; Ei, mein Himmel! rief die Alte, indem sie unter mitleidigem                Kopfschütteln eine Prise Tabak nahm. Wo befindet sich denn in diesem Augenblicke Eure                Reisegesellschaft? &#x2014; Euch, versetzte der Fremde, nachdem er sich ein wenig besonnen                hatte, Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein                Strahl von der meinigen entgegen. Die Familie befindet sich, daß Ihr es wißt, eine                Meile von hier, zunächst dem Möwenweiher, in der Wildniß der angrenzenden                Gebirgswaldung; Hunger und Durst zwangen uns vorgestern diese Zuflucht aufzusuchen.                Vergebens schickten wir in der verflossenen Nacht unsere Bedienten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] meine Absicht ist, Port au Prince zu erreichen, bevor es dem General Dessalines noch gelungen ist, es mit den Truppen, die er anführt, einzuschließen und zu belagern. — Von Fort Dauphin! rief die Alte. Und es ist Euch mit Eurer Gesichtsfarbe geglückt, diesen ungeheuren Weg mitten durch ein in Empörung begriffenes Mohrenland zurückzulegen? — Gott und alle Heiligen, erwiderte der Fremde, haben mich beschützt! Und ich bin nicht allein, gutes Mütterchen; in meinem Gefolge, das ich zurückgelassen, befindet sich ein ehrwürdiger alter Greis, mein Oheim, mit seiner Gemahlin und fünf Kindern; mehrere Bediente und Mägde, die zur Familie gehören, nicht zu erwähnen; ein Troß von zwölf Menschen, den ich mit Hülfe zweier elenden Maulesel in unsäglich mühevollen Nachtwanderungen, da wir uns bei Tage auf der Heerstraße nicht zeigen dürfen, mit mir fortführen muß. — Ei, mein Himmel! rief die Alte, indem sie unter mitleidigem Kopfschütteln eine Prise Tabak nahm. Wo befindet sich denn in diesem Augenblicke Eure Reisegesellschaft? — Euch, versetzte der Fremde, nachdem er sich ein wenig besonnen hatte, Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen. Die Familie befindet sich, daß Ihr es wißt, eine Meile von hier, zunächst dem Möwenweiher, in der Wildniß der angrenzenden Gebirgswaldung; Hunger und Durst zwangen uns vorgestern diese Zuflucht aufzusuchen. Vergebens schickten wir in der verflossenen Nacht unsere Bedienten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:20:21Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:20:21Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/16
Zitationshilfe: Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/16>, abgerufen am 28.03.2024.