Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

Bild:
<< vorherige Seite

verschwunden; aber an meiner Seite saß ein
braunes Böhmerweib und schien aufmerksam in
meinen Gesichtszügen zu lesen. Ich erschrack
fast vor der großen gigantischen Gestalt, und
vor dem dunkeln Antlize, in das ein seltsam
barokkes Leben mit eben so grellen Zügen nie-
dergeschrieben schien. "Gieb mir die Hand,
Blanker!" sagte sie geheimnißvoll, und ich
reichte sie ihr unwillkührlich hin.

Je stärker und sicherer der Mensch sich selbst
gefaßt hält, um so läppischer erscheint ihm
alles Geheimnißvolle und Wunderbare, vom
Freimaurerorden an, bis zu den Mysterien
einer zweiten Welt. Ich schauderte heute zum
erstenmale etwas, denn das Weib las aus
meiner Hand mein ganzes voriges Leben, wie
aus einem Buche mir vor, bis hin zu dem
Augenblicke, wo ich als ein Schaz gehoben
wurde (S. die vierte Nachtwache.) Darauf
sagte sie: "Sollst auch deinen Vater sehen,
Blanker; schau dich um, er steht hinter dir!"

verſchwunden; aber an meiner Seite ſaß ein
braunes Boͤhmerweib und ſchien aufmerkſam in
meinen Geſichtszuͤgen zu leſen. Ich erſchrack
faſt vor der großen gigantiſchen Geſtalt, und
vor dem dunkeln Antlize, in das ein ſeltſam
barokkes Leben mit eben ſo grellen Zuͤgen nie-
dergeſchrieben ſchien. „Gieb mir die Hand,
Blanker!“ ſagte ſie geheimnißvoll, und ich
reichte ſie ihr unwillkuͤhrlich hin.

Je ſtaͤrker und ſicherer der Menſch ſich ſelbſt
gefaßt haͤlt, um ſo laͤppiſcher erſcheint ihm
alles Geheimnißvolle und Wunderbare, vom
Freimaurerorden an, bis zu den Myſterien
einer zweiten Welt. Ich ſchauderte heute zum
erſtenmale etwas, denn das Weib las aus
meiner Hand mein ganzes voriges Leben, wie
aus einem Buche mir vor, bis hin zu dem
Augenblicke, wo ich als ein Schaz gehoben
wurde (S. die vierte Nachtwache.) Darauf
ſagte ſie: „Sollſt auch deinen Vater ſehen,
Blanker; ſchau dich um, er ſteht hinter dir!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0280" n="278"/>
ver&#x017F;chwunden; aber an meiner Seite &#x017F;aß ein<lb/>
braunes Bo&#x0364;hmerweib und &#x017F;chien aufmerk&#x017F;am in<lb/>
meinen Ge&#x017F;ichtszu&#x0364;gen zu le&#x017F;en. Ich er&#x017F;chrack<lb/>
fa&#x017F;t vor der großen giganti&#x017F;chen Ge&#x017F;talt, und<lb/>
vor dem dunkeln Antlize, in das ein &#x017F;elt&#x017F;am<lb/>
barokkes Leben mit eben &#x017F;o grellen Zu&#x0364;gen nie-<lb/>
derge&#x017F;chrieben &#x017F;chien. &#x201E;Gieb mir die Hand,<lb/>
Blanker!&#x201C; &#x017F;agte &#x017F;ie geheimnißvoll, und ich<lb/>
reichte &#x017F;ie ihr unwillku&#x0364;hrlich hin.</p><lb/>
        <p>Je &#x017F;ta&#x0364;rker und &#x017F;icherer der Men&#x017F;ch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
gefaßt ha&#x0364;lt, um &#x017F;o la&#x0364;ppi&#x017F;cher er&#x017F;cheint ihm<lb/>
alles Geheimnißvolle und Wunderbare, vom<lb/>
Freimaurerorden an, bis zu den My&#x017F;terien<lb/>
einer zweiten Welt. Ich &#x017F;chauderte heute zum<lb/>
er&#x017F;tenmale etwas, denn das Weib las aus<lb/>
meiner Hand mein ganzes voriges Leben, wie<lb/>
aus einem Buche mir vor, bis hin zu dem<lb/>
Augenblicke, wo ich als ein Schaz gehoben<lb/>
wurde (S. die vierte Nachtwache.) Darauf<lb/>
&#x017F;agte &#x017F;ie: &#x201E;Soll&#x017F;t auch deinen Vater &#x017F;ehen,<lb/>
Blanker; &#x017F;chau dich um, er &#x017F;teht hinter dir!&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[278/0280] verſchwunden; aber an meiner Seite ſaß ein braunes Boͤhmerweib und ſchien aufmerkſam in meinen Geſichtszuͤgen zu leſen. Ich erſchrack faſt vor der großen gigantiſchen Geſtalt, und vor dem dunkeln Antlize, in das ein ſeltſam barokkes Leben mit eben ſo grellen Zuͤgen nie- dergeſchrieben ſchien. „Gieb mir die Hand, Blanker!“ ſagte ſie geheimnißvoll, und ich reichte ſie ihr unwillkuͤhrlich hin. Je ſtaͤrker und ſicherer der Menſch ſich ſelbſt gefaßt haͤlt, um ſo laͤppiſcher erſcheint ihm alles Geheimnißvolle und Wunderbare, vom Freimaurerorden an, bis zu den Myſterien einer zweiten Welt. Ich ſchauderte heute zum erſtenmale etwas, denn das Weib las aus meiner Hand mein ganzes voriges Leben, wie aus einem Buche mir vor, bis hin zu dem Augenblicke, wo ich als ein Schaz gehoben wurde (S. die vierte Nachtwache.) Darauf ſagte ſie: „Sollſt auch deinen Vater ſehen, Blanker; ſchau dich um, er ſteht hinter dir!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/280
Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/280>, abgerufen am 21.11.2024.