seyn; doch kaum hatte er ihren Zauber ge- kostet, als der heftigste Durst nach Wahr- heit in seiner Seele entbrannte. Jeder der diese Syrenen kennt, und ihnen ihren betrüg- rischen Gesang abgelernt hat, fühlt, (wenn er die Wissenschaften nicht als Handwerk treibt,) ohne mein Erinnern, daß ihm sein Zweck, diesen brennenden Durst zu stillen, entwischen mußte. Nachdem er lange in diesem Labyrinth herumgetaumelt hatte, wa- ren seine Erndte: Zweifel, Unwille über die Kurzsichtigkeit des Menschen, Mißmuth und Murren gegen den, der ihn geschaffen, das Licht zu ahnden, ohne die dicke Finsterniß durchbrechen zu können. Noch wäre er glücklich gewesen, hätte er mit diesen Em- pfindungen allein zu kämpfen gehabt; da aber das Lesen der Weisen und Dichter, tau- send neue Bedürfnisse in seiner Seele erweck- ten, und seine nun beflügelte und zugekün- stelte Einbildungskraft, die reizenden Ge- genstände des Genußes, die Ansehen und Gold allein verschaffen können, unabläßig
vor
ſeyn; doch kaum hatte er ihren Zauber ge- koſtet, als der heftigſte Durſt nach Wahr- heit in ſeiner Seele entbrannte. Jeder der dieſe Syrenen kennt, und ihnen ihren betruͤg- riſchen Geſang abgelernt hat, fuͤhlt, (wenn er die Wiſſenſchaften nicht als Handwerk treibt,) ohne mein Erinnern, daß ihm ſein Zweck, dieſen brennenden Durſt zu ſtillen, entwiſchen mußte. Nachdem er lange in dieſem Labyrinth herumgetaumelt hatte, wa- ren ſeine Erndte: Zweifel, Unwille uͤber die Kurzſichtigkeit des Menſchen, Mißmuth und Murren gegen den, der ihn geſchaffen, das Licht zu ahnden, ohne die dicke Finſterniß durchbrechen zu koͤnnen. Noch waͤre er gluͤcklich geweſen, haͤtte er mit dieſen Em- pfindungen allein zu kaͤmpfen gehabt; da aber das Leſen der Weiſen und Dichter, tau- ſend neue Beduͤrfniſſe in ſeiner Seele erweck- ten, und ſeine nun befluͤgelte und zugekuͤn- ſtelte Einbildungskraft, die reizenden Ge- genſtaͤnde des Genußes, die Anſehen und Gold allein verſchaffen koͤnnen, unablaͤßig
vor
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0017"n="6"/>ſeyn; doch kaum hatte er ihren Zauber ge-<lb/>
koſtet, als der heftigſte Durſt nach Wahr-<lb/>
heit in ſeiner Seele entbrannte. Jeder der<lb/>
dieſe Syrenen kennt, und ihnen ihren betruͤg-<lb/>
riſchen Geſang abgelernt hat, fuͤhlt, (wenn<lb/>
er die Wiſſenſchaften nicht als Handwerk<lb/>
treibt,) ohne mein Erinnern, daß ihm ſein<lb/>
Zweck, dieſen brennenden Durſt zu ſtillen,<lb/>
entwiſchen mußte. Nachdem er lange in<lb/>
dieſem Labyrinth herumgetaumelt hatte, wa-<lb/>
ren ſeine Erndte: Zweifel, Unwille uͤber die<lb/>
Kurzſichtigkeit des Menſchen, Mißmuth und<lb/>
Murren gegen den, der ihn geſchaffen, das<lb/>
Licht zu ahnden, ohne die dicke Finſterniß<lb/>
durchbrechen zu koͤnnen. Noch waͤre er<lb/>
gluͤcklich geweſen, haͤtte er mit dieſen Em-<lb/>
pfindungen allein zu kaͤmpfen gehabt; da<lb/>
aber das Leſen der Weiſen und Dichter, tau-<lb/>ſend neue Beduͤrfniſſe in ſeiner Seele erweck-<lb/>
ten, und ſeine nun befluͤgelte und zugekuͤn-<lb/>ſtelte Einbildungskraft, die reizenden Ge-<lb/>
genſtaͤnde des Genußes, die Anſehen und<lb/>
Gold allein verſchaffen koͤnnen, unablaͤßig<lb/><fwplace="bottom"type="catch">vor</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[6/0017]
ſeyn; doch kaum hatte er ihren Zauber ge-
koſtet, als der heftigſte Durſt nach Wahr-
heit in ſeiner Seele entbrannte. Jeder der
dieſe Syrenen kennt, und ihnen ihren betruͤg-
riſchen Geſang abgelernt hat, fuͤhlt, (wenn
er die Wiſſenſchaften nicht als Handwerk
treibt,) ohne mein Erinnern, daß ihm ſein
Zweck, dieſen brennenden Durſt zu ſtillen,
entwiſchen mußte. Nachdem er lange in
dieſem Labyrinth herumgetaumelt hatte, wa-
ren ſeine Erndte: Zweifel, Unwille uͤber die
Kurzſichtigkeit des Menſchen, Mißmuth und
Murren gegen den, der ihn geſchaffen, das
Licht zu ahnden, ohne die dicke Finſterniß
durchbrechen zu koͤnnen. Noch waͤre er
gluͤcklich geweſen, haͤtte er mit dieſen Em-
pfindungen allein zu kaͤmpfen gehabt; da
aber das Leſen der Weiſen und Dichter, tau-
ſend neue Beduͤrfniſſe in ſeiner Seele erweck-
ten, und ſeine nun befluͤgelte und zugekuͤn-
ſtelte Einbildungskraft, die reizenden Ge-
genſtaͤnde des Genußes, die Anſehen und
Gold allein verſchaffen koͤnnen, unablaͤßig
vor
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Klinger, Friedrich Maximilian: Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg, 1791, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klinger_faust_1791/17>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.