ist nur: Was muß der Theorist thun, der wahre Regeln festsezen will?
Jch denke, er muß zwey Sachen beynah zu glei- cher Zeit thun, die erste: Er bemerkt die Eindrücke, welche Gedichte von allen Arten auf ihn, und auf andre machen, das heist: er erfährt, und sammelt die Erfahrung Andrer; die zweyte: Er sondert die Beschaffenheiten der verschiednen Gedichte mit ge- nauen Bestimmungen von einander ab, oder er zer- gliedert das in Dichtarten, was Wirkung hervorge- bracht hat. (Anzeige schwächerer oder stärkerer Wir- kung würde dabey nicht überfliessig seyn.) Wie sehr man sich hier irren könne, beweist unter andern, daß man die poetischen Briefe zu einer Dichtart hat machen wollen. Wenn nun vollends das Lehrgedicht kein eigentliches Gedicht wäre, und also auch keine Dichtart ausmachen könte? (Hiermit wird nicht ge- sagt, daß ein Lehrdichter nicht viel poetischen Geist haben, und theils zeigen könne.) Bey der anzu- stellenden Erfahrung möchten drey Classen Zuhörer wol genung seyn. Es giebt eine gewisse unterste, mit der keine Erfahrung zu machen ist. Man ist nicht sicher, völlig richtige Erfahrungen zu machen, wenn man den Dichter nur zum Lesen hingiebt, und sich hierauf die Eindrücke sagen läst. Man muß ihn vorlesen, und die Eindrücke sehen. Man würde dann auf seinem Wege unter andern auch da- hin kommen, daß man sagen müste: Diese oder jene poetische Schönheit macht auf alle drey Classen ge- wisse Wirkungen, eine andre nur auf zwey, wieder eine andre nur auf Eine.
Die Werke der Alten haben die Erfahrungen von Jahrhunderten für sich; aber bey der Untersuchung müste man doch das, was wirkliche Erfahrung des-
jenigen,
iſt nur: Was muß der Theoriſt thun, der wahre Regeln feſtſezen will?
Jch denke, er muß zwey Sachen beynah zu glei- cher Zeit thun, die erſte: Er bemerkt die Eindruͤcke, welche Gedichte von allen Arten auf ihn, und auf andre machen, das heiſt: er erfaͤhrt, und ſammelt die Erfahrung Andrer; die zweyte: Er ſondert die Beſchaffenheiten der verſchiednen Gedichte mit ge- nauen Beſtimmungen von einander ab, oder er zer- gliedert das in Dichtarten, was Wirkung hervorge- bracht hat. (Anzeige ſchwaͤcherer oder ſtaͤrkerer Wir- kung wuͤrde dabey nicht uͤberflieſſig ſeyn.) Wie ſehr man ſich hier irren koͤnne, beweiſt unter andern, daß man die poetiſchen Briefe zu einer Dichtart hat machen wollen. Wenn nun vollends das Lehrgedicht kein eigentliches Gedicht waͤre, und alſo auch keine Dichtart ausmachen koͤnte? (Hiermit wird nicht ge- ſagt, daß ein Lehrdichter nicht viel poetiſchen Geiſt haben, und theils zeigen koͤnne.) Bey der anzu- ſtellenden Erfahrung moͤchten drey Claſſen Zuhoͤrer wol genung ſeyn. Es giebt eine gewiſſe unterſte, mit der keine Erfahrung zu machen iſt. Man iſt nicht ſicher, voͤllig richtige Erfahrungen zu machen, wenn man den Dichter nur zum Leſen hingiebt, und ſich hierauf die Eindruͤcke ſagen laͤſt. Man muß ihn vorleſen, und die Eindruͤcke ſehen. Man wuͤrde dann auf ſeinem Wege unter andern auch da- hin kommen, daß man ſagen muͤſte: Dieſe oder jene poetiſche Schoͤnheit macht auf alle drey Claſſen ge- wiſſe Wirkungen, eine andre nur auf zwey, wieder eine andre nur auf Eine.
Die Werke der Alten haben die Erfahrungen von Jahrhunderten fuͤr ſich; aber bey der Unterſuchung muͤſte man doch das, was wirkliche Erfahrung des-
jenigen,
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iſt nur: Was muß der Theoriſt thun, der wahre
Regeln feſtſezen will?
Jch denke, er muß zwey Sachen beynah zu glei-
cher Zeit thun, die erſte: Er bemerkt die Eindruͤcke,
welche Gedichte von allen Arten auf ihn, und auf
andre machen, das heiſt: er erfaͤhrt, und ſammelt
die Erfahrung Andrer; die zweyte: Er ſondert die
Beſchaffenheiten der verſchiednen Gedichte mit ge-
nauen Beſtimmungen von einander ab, oder er zer-
gliedert das in Dichtarten, was Wirkung hervorge-
bracht hat. (Anzeige ſchwaͤcherer oder ſtaͤrkerer Wir-
kung wuͤrde dabey nicht uͤberflieſſig ſeyn.) Wie ſehr
man ſich hier irren koͤnne, beweiſt unter andern,
daß man die poetiſchen Briefe zu einer Dichtart hat
machen wollen. Wenn nun vollends das Lehrgedicht
kein eigentliches Gedicht waͤre, und alſo auch keine
Dichtart ausmachen koͤnte? (Hiermit wird nicht ge-
ſagt, daß ein Lehrdichter nicht viel poetiſchen Geiſt
haben, und theils zeigen koͤnne.) Bey der anzu-
ſtellenden Erfahrung moͤchten drey Claſſen Zuhoͤrer
wol genung ſeyn. Es giebt eine gewiſſe unterſte,
mit der keine Erfahrung zu machen iſt. Man iſt
nicht ſicher, voͤllig richtige Erfahrungen zu machen,
wenn man den Dichter nur zum Leſen hingiebt,
und ſich hierauf die Eindruͤcke ſagen laͤſt. Man
muß ihn vorleſen, und die Eindruͤcke ſehen. Man
wuͤrde dann auf ſeinem Wege unter andern auch da-
hin kommen, daß man ſagen muͤſte: Dieſe oder jene
poetiſche Schoͤnheit macht auf alle drey Claſſen ge-
wiſſe Wirkungen, eine andre nur auf zwey, wieder
eine andre nur auf Eine.
Die Werke der Alten haben die Erfahrungen von
Jahrhunderten fuͤr ſich; aber bey der Unterſuchung
muͤſte man doch das, was wirkliche Erfahrung des-
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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Deutsche Gelehrtenrepublik. Hamburg, 1774, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_gelehrtenrepublik_1774/400>, abgerufen am 22.11.2024.
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