Klüber, Johann Ludwig: Europäisches Völkerrecht. Bd. 1. Stuttgart, 1821.II. Cap. Die europäischen Staaten. hieraus entstandene fast allgemeine System derEifersucht und des Misstrauens, verbunden mit sorgsamem Streben, in dem politischen Verkehr nicht aus den Schranken des äussern Anstandes und der Humanität zu treten, noch ungestraft treten zu lassen. Nicht nur hat dieses Anlass gegeben zu Bildung gewisser politischen Theo- rien, welche nicht immer ohne Einfluss auf die Ereignisse geblieben sind a), sondern es hat sich auch nicht selten eine Macht festgesetzt b); ja es hat sich, wie verabredet, allmählig, unter den europäischen Staaten von christlichem Glau- bensbekenntniss eine ziemlich allgemeine Ueber- einstimmung gebildet, nicht nur in der öffent- lichen Handlungsweise, sondern auch in gewis- sen VertragStipulationen. Fast allgemein wird jetzt diese Uebereinstimmung, wenn auch nicht durchgehends als strenges Recht c), doch als europäische Völkersitte, zuweilen mit der Kraft moralischer Nothwendigkeit, betrachtet, und un- ter manchen Staaten ist sie selbst der Form nach in strenges Recht übergegangen, so weit man sie durch ausdrückliche oder stillschweigende Ver- träge sanctionirt hat. Auf solche Weise von un- sichtbaren Banden umschlungen, betrachten sich die christlichen Mächte von Europa jetzt wie Ge- nossen eines sittlichen Vereins d), dem sich nun auch der einzige nichtchristliche Staat in Europa, die osmanische Pforte, einigermasen nähern zu II. Cap. Die europäischen Staaten. hieraus entstandene fast allgemeine System derEifersucht und des Miſstrauens, verbunden mit sorgsamem Streben, in dem politischen Verkehr nicht aus den Schranken des äussern Anstandes und der Humanität zu treten, noch ungestraft treten zu lassen. Nicht nur hat dieses Anlaſs gegeben zu Bildung gewisser politischen Theo- rien, welche nicht immer ohne Einfluſs auf die Ereignisse geblieben sind a), sondern es hat sich auch nicht selten eine Macht festgesetzt b); ja es hat sich, wie verabredet, allmählig, unter den europäischen Staaten von christlichem Glau- bensbekenntniſs eine ziemlich allgemeine Ueber- einstimmung gebildet, nicht nur in der öffent- lichen Handlungsweise, sondern auch in gewis- sen VertragStipulationen. Fast allgemein wird jetzt diese Uebereinstimmung, wenn auch nicht durchgehends als strenges Recht c), doch als europäische Völkersitte, zuweilen mit der Kraft moralischer Nothwendigkeit, betrachtet, und un- ter manchen Staaten ist sie selbst der Form nach in strenges Recht übergegangen, so weit man sie durch ausdrückliche oder stillschweigende Ver- träge sanctionirt hat. Auf solche Weise von un- sichtbaren Banden umschlungen, betrachten sich die christlichen Mächte von Europa jetzt wie Ge- nossen eines sittlichen Vereins d), dem sich nun auch der einzige nichtchristliche Staat in Europa, die osmanische Pforte, einigermasen nähern zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0079" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#i">II. Cap. Die europäischen Staaten.</hi></fw><lb/> hieraus entstandene fast allgemeine System der<lb/> Eifersucht und des Miſstrauens, verbunden mit<lb/> sorgsamem Streben, in dem politischen Verkehr<lb/> nicht aus den Schranken des äussern Anstandes<lb/> und der Humanität zu treten, noch ungestraft<lb/> treten zu lassen. Nicht nur hat dieses Anlaſs<lb/> gegeben zu Bildung gewisser <hi rendition="#i">politischen Theo-<lb/> rien</hi>, welche nicht immer ohne Einfluſs auf die<lb/> Ereignisse geblieben sind <hi rendition="#i">a</hi>), sondern es hat sich<lb/> auch nicht selten eine <hi rendition="#i">Macht</hi> festgesetzt <hi rendition="#i">b</hi>); ja<lb/> es hat sich, wie verabredet, allmählig, unter<lb/> den europäischen Staaten von christlichem Glau-<lb/> bensbekenntniſs eine ziemlich allgemeine <hi rendition="#i">Ueber-<lb/> einstimmung</hi> gebildet, nicht nur in der öffent-<lb/> lichen Handlungsweise, sondern auch in gewis-<lb/> sen VertragStipulationen. Fast allgemein wird<lb/> jetzt diese Uebereinstimmung, wenn auch nicht<lb/> durchgehends als strenges Recht <hi rendition="#i">c</hi>), doch als<lb/><hi rendition="#i">europäische Völkersitte</hi>, zuweilen mit der Kraft<lb/> moralischer Nothwendigkeit, betrachtet, und un-<lb/> ter manchen Staaten ist sie selbst der Form nach<lb/> in <hi rendition="#i">strenges Recht</hi> übergegangen, so weit man sie<lb/> durch ausdrückliche oder stillschweigende Ver-<lb/> träge sanctionirt hat. Auf solche Weise von un-<lb/> sichtbaren Banden umschlungen, betrachten sich<lb/> die christlichen Mächte von Europa jetzt wie <hi rendition="#i">Ge-<lb/> nossen eines sittlichen Vereins d</hi>), dem sich nun<lb/> auch der <hi rendition="#i">einzige nichtchristliche Staat</hi> in Europa,<lb/> die osmanische Pforte, einigermasen nähern zu<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0079]
II. Cap. Die europäischen Staaten.
hieraus entstandene fast allgemeine System der
Eifersucht und des Miſstrauens, verbunden mit
sorgsamem Streben, in dem politischen Verkehr
nicht aus den Schranken des äussern Anstandes
und der Humanität zu treten, noch ungestraft
treten zu lassen. Nicht nur hat dieses Anlaſs
gegeben zu Bildung gewisser politischen Theo-
rien, welche nicht immer ohne Einfluſs auf die
Ereignisse geblieben sind a), sondern es hat sich
auch nicht selten eine Macht festgesetzt b); ja
es hat sich, wie verabredet, allmählig, unter
den europäischen Staaten von christlichem Glau-
bensbekenntniſs eine ziemlich allgemeine Ueber-
einstimmung gebildet, nicht nur in der öffent-
lichen Handlungsweise, sondern auch in gewis-
sen VertragStipulationen. Fast allgemein wird
jetzt diese Uebereinstimmung, wenn auch nicht
durchgehends als strenges Recht c), doch als
europäische Völkersitte, zuweilen mit der Kraft
moralischer Nothwendigkeit, betrachtet, und un-
ter manchen Staaten ist sie selbst der Form nach
in strenges Recht übergegangen, so weit man sie
durch ausdrückliche oder stillschweigende Ver-
träge sanctionirt hat. Auf solche Weise von un-
sichtbaren Banden umschlungen, betrachten sich
die christlichen Mächte von Europa jetzt wie Ge-
nossen eines sittlichen Vereins d), dem sich nun
auch der einzige nichtchristliche Staat in Europa,
die osmanische Pforte, einigermasen nähern zu
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |