Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

wendet euer Antliz nicht weg, er ist auch euer
Bruder!
so elend und verworfen er auch ist; hört
erst seine Geschichte, und vielleicht bedauert ihr
ihn -- Er war vielleicht einst gut und bieder,
hätte ein brauchbares Glied der Gesellschaft wer-
den können, wenn seine Brüder ihm nicht das
Gewand der Menschheit entrissen, und ihm die
Rechte der Natur entzogen hätten.

Kommt mit mir an jene Stäte, wo die Ge-
rechtigkeit ihre Opfer würgt, dort laßt uns Ge-
danken des menschlichen Elends entfalten; seht
hier hole Schedel -- zerstossene Gliedmassen --
flatternde Gewänder! Laßt uns nicht die Achsel
zukken, und mit dem lieblosen Gedanken vor die-
ser Stäte vorübereilen: er war ein Böse-
wicht!
Nein! laßt uns die Geschichte des Un-
glüklichen enthüllen, laßt uns ihm folgen von
dem Tage an, da er sein Dasein empfing, bis
an dem Tage, da er es durch Henkersknechte
verlor.

Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet
ward, ein Bösewicht. Ward nicht auch ein Ca-
las
gewürget? Hatte nicht ein hohes Tribunal
den Stab über ihn gebrochen? Hielt ihn nicht
der einstimmige Zuruf des Volks für schuldig?

wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer
Bruder!
ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt
erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr
ihn — Er war vielleicht einſt gut und bieder,
haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer-
den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das
Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die
Rechte der Natur entzogen haͤtten.

Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge-
rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge-
danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht
hier hole Schedel — zerſtoſſene Gliedmaſſen —
flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel
zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die-
ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe-
wicht!
Nein! laßt uns die Geſchichte des Un-
gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von
dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis
an dem Tage, da er es durch Henkersknechte
verlor.

Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet
ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca-
las
gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal
den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht
der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014" n="6"/>
wendet euer Antliz nicht weg, <hi rendition="#fr">er i&#x017F;t auch euer<lb/>
Bruder!</hi> &#x017F;o elend und verworfen er auch i&#x017F;t; ho&#x0364;rt<lb/>
er&#x017F;t &#x017F;eine Ge&#x017F;chichte, und vielleicht bedauert ihr<lb/>
ihn &#x2014; Er war vielleicht ein&#x017F;t gut und bieder,<lb/>
ha&#x0364;tte ein brauchbares Glied der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft wer-<lb/>
den ko&#x0364;nnen, wenn &#x017F;eine Bru&#x0364;der ihm nicht das<lb/>
Gewand der Men&#x017F;chheit entri&#x017F;&#x017F;en, und ihm die<lb/>
Rechte der Natur entzogen ha&#x0364;tten.</p><lb/>
        <p>Kommt mit mir an jene Sta&#x0364;te, wo die Ge-<lb/>
rechtigkeit ihre Opfer wu&#x0364;rgt, dort laßt uns Ge-<lb/>
danken des men&#x017F;chlichen Elends entfalten; &#x017F;eht<lb/>
hier hole Schedel &#x2014; zer&#x017F;to&#x017F;&#x017F;ene Gliedma&#x017F;&#x017F;en &#x2014;<lb/>
flatternde Gewa&#x0364;nder! Laßt uns nicht die Ach&#x017F;el<lb/>
zukken, und mit dem lieblo&#x017F;en Gedanken vor die-<lb/>
&#x017F;er Sta&#x0364;te voru&#x0364;bereilen: <hi rendition="#fr">er war ein Bo&#x0364;&#x017F;e-<lb/>
wicht!</hi> Nein! laßt uns die Ge&#x017F;chichte des Un-<lb/>
glu&#x0364;klichen enthu&#x0364;llen, laßt uns ihm folgen von<lb/>
dem Tage an, da er &#x017F;ein Da&#x017F;ein empfing, bis<lb/>
an dem Tage, da er es durch Henkersknechte<lb/>
verlor.</p><lb/>
        <p>Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet<lb/>
ward, ein Bo&#x0364;&#x017F;ewicht. Ward nicht auch ein <hi rendition="#fr">Ca-<lb/>
las</hi> gewu&#x0364;rget? Hatte nicht ein hohes Tribunal<lb/>
den Stab u&#x0364;ber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht<lb/>
der ein&#x017F;timmige Zuruf des Volks fu&#x0364;r &#x017F;chuldig?<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0014] wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer Bruder! ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr ihn — Er war vielleicht einſt gut und bieder, haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer- den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die Rechte der Natur entzogen haͤtten. Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge- rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge- danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht hier hole Schedel — zerſtoſſene Gliedmaſſen — flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die- ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe- wicht! Nein! laßt uns die Geſchichte des Un- gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis an dem Tage, da er es durch Henkersknechte verlor. Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca- las gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/14
Zitationshilfe: Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/14>, abgerufen am 23.11.2024.