wendet euer Antliz nicht weg, er ist auch euer Bruder! so elend und verworfen er auch ist; hört erst seine Geschichte, und vielleicht bedauert ihr ihn -- Er war vielleicht einst gut und bieder, hätte ein brauchbares Glied der Gesellschaft wer- den können, wenn seine Brüder ihm nicht das Gewand der Menschheit entrissen, und ihm die Rechte der Natur entzogen hätten.
Kommt mit mir an jene Stäte, wo die Ge- rechtigkeit ihre Opfer würgt, dort laßt uns Ge- danken des menschlichen Elends entfalten; seht hier hole Schedel -- zerstossene Gliedmassen -- flatternde Gewänder! Laßt uns nicht die Achsel zukken, und mit dem lieblosen Gedanken vor die- ser Stäte vorübereilen: er war ein Böse- wicht! Nein! laßt uns die Geschichte des Un- glüklichen enthüllen, laßt uns ihm folgen von dem Tage an, da er sein Dasein empfing, bis an dem Tage, da er es durch Henkersknechte verlor.
Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet ward, ein Bösewicht. Ward nicht auch ein Ca- las gewürget? Hatte nicht ein hohes Tribunal den Stab über ihn gebrochen? Hielt ihn nicht der einstimmige Zuruf des Volks für schuldig?
wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer Bruder! ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr ihn — Er war vielleicht einſt gut und bieder, haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer- den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die Rechte der Natur entzogen haͤtten.
Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge- rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge- danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht hier hole Schedel — zerſtoſſene Gliedmaſſen — flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die- ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe- wicht! Nein! laßt uns die Geſchichte des Un- gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis an dem Tage, da er es durch Henkersknechte verlor.
Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca- las gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig?
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0014"n="6"/>
wendet euer Antliz nicht weg, <hirendition="#fr">er iſt auch euer<lb/>
Bruder!</hi>ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt<lb/>
erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr<lb/>
ihn — Er war vielleicht einſt gut und bieder,<lb/>
haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer-<lb/>
den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das<lb/>
Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die<lb/>
Rechte der Natur entzogen haͤtten.</p><lb/><p>Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge-<lb/>
rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge-<lb/>
danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht<lb/>
hier hole Schedel — zerſtoſſene Gliedmaſſen —<lb/>
flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel<lb/>
zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die-<lb/>ſer Staͤte voruͤbereilen: <hirendition="#fr">er war ein Boͤſe-<lb/>
wicht!</hi> Nein! laßt uns die Geſchichte des Un-<lb/>
gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von<lb/>
dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis<lb/>
an dem Tage, da er es durch Henkersknechte<lb/>
verlor.</p><lb/><p>Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet<lb/>
ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein <hirendition="#fr">Ca-<lb/>
las</hi> gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal<lb/>
den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht<lb/>
der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig?<lb/></p></div></body></text></TEI>
[6/0014]
wendet euer Antliz nicht weg, er iſt auch euer
Bruder! ſo elend und verworfen er auch iſt; hoͤrt
erſt ſeine Geſchichte, und vielleicht bedauert ihr
ihn — Er war vielleicht einſt gut und bieder,
haͤtte ein brauchbares Glied der Geſellſchaft wer-
den koͤnnen, wenn ſeine Bruͤder ihm nicht das
Gewand der Menſchheit entriſſen, und ihm die
Rechte der Natur entzogen haͤtten.
Kommt mit mir an jene Staͤte, wo die Ge-
rechtigkeit ihre Opfer wuͤrgt, dort laßt uns Ge-
danken des menſchlichen Elends entfalten; ſeht
hier hole Schedel — zerſtoſſene Gliedmaſſen —
flatternde Gewaͤnder! Laßt uns nicht die Achſel
zukken, und mit dem liebloſen Gedanken vor die-
ſer Staͤte voruͤbereilen: er war ein Boͤſe-
wicht! Nein! laßt uns die Geſchichte des Un-
gluͤklichen enthuͤllen, laßt uns ihm folgen von
dem Tage an, da er ſein Daſein empfing, bis
an dem Tage, da er es durch Henkersknechte
verlor.
Nicht jeder Gerichtete war, weil er gerichtet
ward, ein Boͤſewicht. Ward nicht auch ein Ca-
las gewuͤrget? Hatte nicht ein hohes Tribunal
den Stab uͤber ihn gebrochen? Hielt ihn nicht
der einſtimmige Zuruf des Volks fuͤr ſchuldig?
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/14>, abgerufen am 04.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.