viel zu unerfahren, Warheit von Täuschung zu unterscheiden, sie kannte die Welt nur aus Bü- chern und schuf sich lauter Grändisons und Loveläce's -- Jhr Herz, so offen und rein, kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit die Unschuld zu bestrikken pflegt; in ihr schlug ein warmes Gefühl für Tugend und Rechtschaffen- heit, und der Glaube an lauter gute und edle Menschen stand fest in ihrer Seele, und ver- bannte Mistrauen und steife Zurükhaltung. Der Verräther sah wol ein, daß er den Weg der Schmeichelei bei ihr nicht einschlagen durfte, er nahm daher zur Verstellung seine Zuflucht, ver- stekte das scheusliche Gesicht unter der Larve der Tugend, und so fand der Bube nach und nach den Zugang in das Herz eines schuldlosen Mädchens. Aber dennoch blieb Caroline rein, denn gute Grundsäzze, wenn sie einmal Wurzel geschlagen haben, können nicht so leicht vertilgt werden, und vielleicht wäre sie auch schuldlos geblieben, vielleicht hätte die Tugend einen glänzenden Sieg erkämpft, wenn nicht eine unglükliche Katastro- phe alles untergraben hätte.
Durch den übermäßigen Aufwand, durch die schwelgerischen Feste, war das ansehnliche Ver-
viel zu unerfahren, Warheit von Taͤuſchung zu unterſcheiden, ſie kannte die Welt nur aus Buͤ- chern und ſchuf ſich lauter Graͤndiſons und Lovelaͤce’s — Jhr Herz, ſo offen und rein, kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit die Unſchuld zu beſtrikken pflegt; in ihr ſchlug ein warmes Gefuͤhl fuͤr Tugend und Rechtſchaffen- heit, und der Glaube an lauter gute und edle Menſchen ſtand feſt in ihrer Seele, und ver- bannte Mistrauen und ſteife Zuruͤkhaltung. Der Verraͤther ſah wol ein, daß er den Weg der Schmeichelei bei ihr nicht einſchlagen durfte, er nahm daher zur Verſtellung ſeine Zuflucht, ver- ſtekte das ſcheusliche Geſicht unter der Larve der Tugend, und ſo fand der Bube nach und nach den Zugang in das Herz eines ſchuldloſen Maͤdchens. Aber dennoch blieb Caroline rein, denn gute Grundſaͤzze, wenn ſie einmal Wurzel geſchlagen haben, koͤnnen nicht ſo leicht vertilgt werden, und vielleicht waͤre ſie auch ſchuldlos geblieben, vielleicht haͤtte die Tugend einen glaͤnzenden Sieg erkaͤmpft, wenn nicht eine ungluͤkliche Kataſtro- phe alles untergraben haͤtte.
Durch den uͤbermaͤßigen Aufwand, durch die ſchwelgeriſchen Feſte, war das anſehnliche Ver-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0066"n="58"/>
viel zu unerfahren, Warheit von Taͤuſchung zu<lb/>
unterſcheiden, ſie kannte die Welt nur aus Buͤ-<lb/>
chern und ſchuf ſich lauter <hirendition="#fr">Graͤndiſons</hi> und<lb/><hirendition="#fr">Lovelaͤce’s</hi>— Jhr Herz, ſo offen und rein,<lb/>
kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit<lb/>
die Unſchuld zu beſtrikken pflegt; in ihr ſchlug ein<lb/>
warmes Gefuͤhl fuͤr Tugend und Rechtſchaffen-<lb/>
heit, und der Glaube an lauter gute und edle<lb/>
Menſchen ſtand feſt in ihrer Seele, und ver-<lb/>
bannte Mistrauen und ſteife Zuruͤkhaltung. Der<lb/>
Verraͤther ſah wol ein, daß er den Weg der<lb/>
Schmeichelei bei ihr nicht einſchlagen durfte, er<lb/>
nahm daher zur Verſtellung ſeine Zuflucht, ver-<lb/>ſtekte das ſcheusliche Geſicht unter der Larve der<lb/>
Tugend, und ſo fand der Bube nach und nach den<lb/>
Zugang in das Herz eines ſchuldloſen Maͤdchens.<lb/>
Aber dennoch blieb <hirendition="#fr">Caroline</hi> rein, denn gute<lb/>
Grundſaͤzze, wenn ſie einmal Wurzel geſchlagen<lb/>
haben, koͤnnen nicht ſo leicht vertilgt werden,<lb/>
und vielleicht waͤre ſie auch ſchuldlos geblieben,<lb/>
vielleicht haͤtte die Tugend einen glaͤnzenden Sieg<lb/>
erkaͤmpft, wenn nicht eine ungluͤkliche Kataſtro-<lb/>
phe alles untergraben haͤtte.</p><lb/><p>Durch den uͤbermaͤßigen Aufwand, durch die<lb/>ſchwelgeriſchen Feſte, war das anſehnliche Ver-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[58/0066]
viel zu unerfahren, Warheit von Taͤuſchung zu
unterſcheiden, ſie kannte die Welt nur aus Buͤ-
chern und ſchuf ſich lauter Graͤndiſons und
Lovelaͤce’s — Jhr Herz, ſo offen und rein,
kannte die Schlingen nicht, mit der die Bosheit
die Unſchuld zu beſtrikken pflegt; in ihr ſchlug ein
warmes Gefuͤhl fuͤr Tugend und Rechtſchaffen-
heit, und der Glaube an lauter gute und edle
Menſchen ſtand feſt in ihrer Seele, und ver-
bannte Mistrauen und ſteife Zuruͤkhaltung. Der
Verraͤther ſah wol ein, daß er den Weg der
Schmeichelei bei ihr nicht einſchlagen durfte, er
nahm daher zur Verſtellung ſeine Zuflucht, ver-
ſtekte das ſcheusliche Geſicht unter der Larve der
Tugend, und ſo fand der Bube nach und nach den
Zugang in das Herz eines ſchuldloſen Maͤdchens.
Aber dennoch blieb Caroline rein, denn gute
Grundſaͤzze, wenn ſie einmal Wurzel geſchlagen
haben, koͤnnen nicht ſo leicht vertilgt werden,
und vielleicht waͤre ſie auch ſchuldlos geblieben,
vielleicht haͤtte die Tugend einen glaͤnzenden Sieg
erkaͤmpft, wenn nicht eine ungluͤkliche Kataſtro-
phe alles untergraben haͤtte.
Durch den uͤbermaͤßigen Aufwand, durch die
ſchwelgeriſchen Feſte, war das anſehnliche Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/66>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.