Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949. pko_039.001 III. GENERIK ODER LEHRE VON DEN DICHTUNGS- pko_039.002 (WORTKUNST-)GATTUNGEN. pko_039.003 pko_039.016 A. Lyrik. pko_039.017 (akustisch-musikalischen) Elemente der Sprache die bedeutungshaften; pko_039.027 die Übertragung der vom Dichter erlebten Stimmung auf den Leser pko_039.028 oder Hörer geschieht nicht sowohl durch die Begrifflichkeit des bezeichnenden, pko_039.029 als durch unmittelbare Suggestion des bannenden Worts, durch pko_039.030 den mitreißenden Rhythmus der in Tonbewegung umgesetzten Erregung. pko_039.031 Indes scheidet ein Weniger oder Mehr des auch der Lyrik unentbehrlichen 1) pko_039.032
Die ältere Poetik hat als eine vierte, selbständige Hauptgattung der Dichtkunst pko_039.033 die didaktische (vom griech. didaktikos "belehrend") oder Lehr- pko_039.034 Dichtung angeführt. Nach der oben gegebenen Definition der Dichtung als pko_039.035 zweckfreier Wortkunst ist aber das Lehrgedicht (die in metrische Form gekleidete pko_039.036 sachlich-belehrende, also zweckhafte Darbietung irgendwelchen Wissens) ein in pko_039.037 sich widersprüchlicher Begriff; es ist bestenfalls eine Misch- und Zwitterform von pko_039.038 Dichtung und Wissenschaft. pko_039.001 III. GENERIK ODER LEHRE VON DEN DICHTUNGS- pko_039.002 (WORTKUNST-)GATTUNGEN. pko_039.003 pko_039.016 A. Lyrik. pko_039.017 (akustisch-musikalischen) Elemente der Sprache die bedeutungshaften; pko_039.027 die Übertragung der vom Dichter erlebten Stimmung auf den Leser pko_039.028 oder Hörer geschieht nicht sowohl durch die Begrifflichkeit des bezeichnenden, pko_039.029 als durch unmittelbare Suggestion des bannenden Worts, durch pko_039.030 den mitreißenden Rhythmus der in Tonbewegung umgesetzten Erregung. pko_039.031 Indes scheidet ein Weniger oder Mehr des auch der Lyrik unentbehrlichen 1) pko_039.032
Die ältere Poetik hat als eine vierte, selbständige Hauptgattung der Dichtkunst pko_039.033 die didáktische (vom griech. didaktikós „belehrend“) oder Lehr- pko_039.034 Dichtung angeführt. Nach der oben gegebenen Definition der Dichtung als pko_039.035 zweckfreier Wortkunst ist aber das Lehrgedicht (die in metrische Form gekleidete pko_039.036 sachlich-belehrende, also zweckhafte Darbietung irgendwelchen Wissens) ein in pko_039.037 sich widersprüchlicher Begriff; es ist bestenfalls eine Misch- und Zwitterform von pko_039.038 Dichtung und Wissenschaft. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <pb facs="#f0043" n="39"/> </div> </div> </div> </div> <div n="3"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pko_039.001"/> III. <hi rendition="#g">GENERIK ODER LEHRE VON DEN DICHTUNGS- <lb n="pko_039.002"/> (WORTKUNST-)GATTUNGEN.</hi></hi> </head> <p><lb n="pko_039.003"/> Lyrik, Epik und Dramatik bezeichnet Goethe als „die drei Naturformen <lb n="pko_039.004"/> der Poesie“; in der Tat sind sie weder durch geschichtlichen <lb n="pko_039.005"/> Zufall noch infolge willkürlicher Setzung gelehrter Systematik entstanden, <lb n="pko_039.006"/> sondern erwachsen aus den Grundfunktionen seelisch-geistigen <lb n="pko_039.007"/> Lebens: dem Fühlen, Erkennen und Wollen; in genauer Korrelation zu <lb n="pko_039.008"/> diesen drei Vermögen des Gemüts stehen die drei Dichtungsgattungen<note xml:id="PKO_039_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_039.032"/> Die ältere Poetik hat als eine vierte, selbständige Hauptgattung der Dichtkunst <lb n="pko_039.033"/> die <hi rendition="#g">didáktische</hi> (vom griech. didaktikós „belehrend“) oder <hi rendition="#g">Lehr- <lb n="pko_039.034"/> Dichtung</hi> angeführt. Nach der oben gegebenen Definition der Dichtung als <lb n="pko_039.035"/> zweckfreier Wortkunst ist aber das Lehrgedicht (die in metrische Form gekleidete <lb n="pko_039.036"/> sachlich-belehrende, also zweckhafte Darbietung irgendwelchen Wissens) ein in <lb n="pko_039.037"/> sich widersprüchlicher Begriff; es ist bestenfalls eine Misch- und Zwitterform von <lb n="pko_039.038"/> Dichtung und Wissenschaft.</note>. <lb n="pko_039.009"/> Entwickelten sich jene bio- und phylogenetisch aus einem Vorstadium <lb n="pko_039.010"/> dumpfen Lebensgefühls, so sind, wie die ältesten Zeugnisse der großen <lb n="pko_039.011"/> Literaturen und die Kunst heutiger Primitivvölker erkennen lassen, in <lb n="pko_039.012"/> Urzeiten Lyrik, Epik und Dramatik, vereint mit Musik und Tanz, <lb n="pko_039.013"/> ein ungeschiedenes Gesamt gewesen, aus dem sich erst allmählich die einzelnen <lb n="pko_039.014"/> Darbietungsformen abgesetzt und zur Eigenständigkeit ausgesondert <lb n="pko_039.015"/> haben.</p> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pko_039.016"/> A. <hi rendition="#g">Lyrik.</hi></hi> </head> <p><lb n="pko_039.017"/> Lyrik ist Dichtung des Gefühls, unmittelbarster Ausdruck einer mächtigen <lb n="pko_039.018"/> inneren Erregung im Dichter, und auch ihre Wirkung auf den <lb n="pko_039.019"/> Genießer besteht in Gefühlserlebnissen. Sie ist, da alle Dichtung in <lb n="pko_039.020"/> sprachlichem Erlebnisausdruck besteht, die Urform des Dichterischen. <lb n="pko_039.021"/> <anchor xml:id="ko049"/> Während Epik und Drama den subjektiven Gefühlsausdruck zurücktreten <lb n="pko_039.022"/> lassen vor der gegenständlichen Darstellung, hat in der Lyrik <lb n="pko_039.023"/> umgekehrt alles Gegenständliche bloß symbolischen Wert, das Stoffliche <lb n="pko_039.024"/> ist nur Träger einer Stimmung, jeglicher „Inhalt“ nur Metapher eines <lb n="pko_039.025"/> Gefühlsgehalts. <anchor xml:id="ko050"/> <note targetEnd="#ko050" type="metapher" ana="#m1-0-1-1" target="#ko049"> </note> Daher überwiegen hier auch die ausdruckshaften <lb n="pko_039.026"/> (akustisch-musikalischen) Elemente der Sprache die bedeutungshaften; <lb n="pko_039.027"/> die Übertragung der vom Dichter erlebten Stimmung auf den Leser <lb n="pko_039.028"/> oder Hörer geschieht nicht sowohl durch die Begrifflichkeit des bezeichnenden, <lb n="pko_039.029"/> als durch unmittelbare Suggestion des bannenden Worts, durch <lb n="pko_039.030"/> den mitreißenden Rhythmus der in Tonbewegung umgesetzten Erregung. <lb n="pko_039.031"/> Indes scheidet ein Weniger oder Mehr des auch der Lyrik unentbehrlichen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0043]
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III. GENERIK ODER LEHRE VON DEN DICHTUNGS- pko_039.002
(WORTKUNST-)GATTUNGEN. pko_039.003
Lyrik, Epik und Dramatik bezeichnet Goethe als „die drei Naturformen pko_039.004
der Poesie“; in der Tat sind sie weder durch geschichtlichen pko_039.005
Zufall noch infolge willkürlicher Setzung gelehrter Systematik entstanden, pko_039.006
sondern erwachsen aus den Grundfunktionen seelisch-geistigen pko_039.007
Lebens: dem Fühlen, Erkennen und Wollen; in genauer Korrelation zu pko_039.008
diesen drei Vermögen des Gemüts stehen die drei Dichtungsgattungen 1). pko_039.009
Entwickelten sich jene bio- und phylogenetisch aus einem Vorstadium pko_039.010
dumpfen Lebensgefühls, so sind, wie die ältesten Zeugnisse der großen pko_039.011
Literaturen und die Kunst heutiger Primitivvölker erkennen lassen, in pko_039.012
Urzeiten Lyrik, Epik und Dramatik, vereint mit Musik und Tanz, pko_039.013
ein ungeschiedenes Gesamt gewesen, aus dem sich erst allmählich die einzelnen pko_039.014
Darbietungsformen abgesetzt und zur Eigenständigkeit ausgesondert pko_039.015
haben.
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A. Lyrik. pko_039.017
Lyrik ist Dichtung des Gefühls, unmittelbarster Ausdruck einer mächtigen pko_039.018
inneren Erregung im Dichter, und auch ihre Wirkung auf den pko_039.019
Genießer besteht in Gefühlserlebnissen. Sie ist, da alle Dichtung in pko_039.020
sprachlichem Erlebnisausdruck besteht, die Urform des Dichterischen. pko_039.021
Während Epik und Drama den subjektiven Gefühlsausdruck zurücktreten pko_039.022
lassen vor der gegenständlichen Darstellung, hat in der Lyrik pko_039.023
umgekehrt alles Gegenständliche bloß symbolischen Wert, das Stoffliche pko_039.024
ist nur Träger einer Stimmung, jeglicher „Inhalt“ nur Metapher eines pko_039.025
Gefühlsgehalts. Daher überwiegen hier auch die ausdruckshaften pko_039.026
(akustisch-musikalischen) Elemente der Sprache die bedeutungshaften; pko_039.027
die Übertragung der vom Dichter erlebten Stimmung auf den Leser pko_039.028
oder Hörer geschieht nicht sowohl durch die Begrifflichkeit des bezeichnenden, pko_039.029
als durch unmittelbare Suggestion des bannenden Worts, durch pko_039.030
den mitreißenden Rhythmus der in Tonbewegung umgesetzten Erregung. pko_039.031
Indes scheidet ein Weniger oder Mehr des auch der Lyrik unentbehrlichen
1) pko_039.032
Die ältere Poetik hat als eine vierte, selbständige Hauptgattung der Dichtkunst pko_039.033
die didáktische (vom griech. didaktikós „belehrend“) oder Lehr- pko_039.034
Dichtung angeführt. Nach der oben gegebenen Definition der Dichtung als pko_039.035
zweckfreier Wortkunst ist aber das Lehrgedicht (die in metrische Form gekleidete pko_039.036
sachlich-belehrende, also zweckhafte Darbietung irgendwelchen Wissens) ein in pko_039.037
sich widersprüchlicher Begriff; es ist bestenfalls eine Misch- und Zwitterform von pko_039.038
Dichtung und Wissenschaft.
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