Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

dieselbe Bank vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die Blumen vor die Füße geschüttet?

Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle erscheint, zu dem sie sagen kann:

Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare Gulden

dieselbe Bank vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die Blumen vor die Füße geschüttet?

Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle erscheint, zu dem sie sagen kann:

Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare Gulden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0012"/>
dieselbe Bank                vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft                vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen                doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es                ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der                alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein                hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen                Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den                Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der                alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die                Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die                Blumen vor die Füße geschüttet?</p><lb/>
        <p>Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren                Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den                frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß                ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle                erscheint, zu dem sie sagen kann:</p><lb/>
        <p>Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare                Gulden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] dieselbe Bank vor der Thür und über dasselbe liebe Antlitz hinstreifen! Was nützt es, daß sie oft vor einem kecker auf sie fallenden Strahle verschämt die Augen schließt? Sie kommen doch wieder und lassen sich nicht abweisen und behaupten den liebgewordenen Platz. Es ist schwer zu errathen, welche Gedanken an diesem Sabbatabende durch den Kopf der alten Frau gehen, sie nickt in Einem fort, sie lächelt beständig. Ein hochaufbelasteter, von Garben strotzender Wagen fährt vorüber; oben auf der vollen Frucht sitzt ein Bursche; dem muß in diesem Augenblick ein eigener Gedanke durch den Kopf fliegen, daß er den mächtigen Strauß, aus blauen Kornblumen geflochten, der alten Jüdin zuwirft. Und habt ihr nicht gesehen, wie ein flüchtiges Erröthen die Wangen überflogen hat, als wären es die ersten Tage der Liebe und der würden die Blumen vor die Füße geschüttet? Warum hat der Bursche ihr den Kranz nicht in den Schooß, warum hat er ihn zu ihren Füßen geschleudert? Sie muß sich nun bücken und kann es nicht, und möchte doch den frischen Feldduft der blauen Blumen mit allen Sinnen einziehen. Die alte Frau muß ihren Enkel drei Mal rufen, ehe ein rothwangiger Junge auf der Thürschwelle erscheint, zu dem sie sagen kann: Komm her und buck dich und heb mir die Blumen auf. Du kannst mir zehntausend baare Gulden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/12
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/12>, abgerufen am 23.11.2024.