Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Die Großmutter schüttelte bedenklich den Kopf; ihren Blick unverwandt an der Thür hastend, durch die Josseph so zornig gegangen, sprach sie zu ihrem Enkel: Was ist dein Vater doch für ein Narr! Macht er da nicht ein Gelärm, als ob ich ein fünfmonatlich Wickelkind wäre? Und wenn die Welt um ein alt Weib weniger wird? Mein Mann hat schon lang genug auf mich gewart't -- Laut weinend stürzte der Knabe an das Bett seiner Großmutter. Narrele, sagte sie unter wunderbarer Rührung, meinst du denn, der Mensch ist auf der Welt da, damit er sich alle Woch' einen guten Schabbes macht? Gott der Allmächtige im siebenten Himmel droben, der weiß nur zu gut, wenn der Uhr, die in uns steckt, ein Rädel ausgebrochen ist. Was thäten denn so viele Menschen auf der Welt? Daß man noch mehr Leid und Kummer vor sich sieht? Ich sag' dir, Fischele Leben, die zwei Augen, die sich einmal zugemacht haben, die machen sich nicht wieder auf, und wenn du eine ganze Kiste mit Gold und Perlen vor sie hinstellst. Daher lang' du mir nur mein Wanderbüchel her, ich hab' noch drei Tag' vor mir, die möcht' ich gern für den großen Weg mich gehörig vorbereiten und zurichten, denn man weiß nicht, zu welchem großen Herrn man jetzt kommt. -- Der Jäger im stillen Walde hat es schon oft erfahren, wie das Wild, dem er nachgesetzt, mit der Die Großmutter schüttelte bedenklich den Kopf; ihren Blick unverwandt an der Thür hastend, durch die Josseph so zornig gegangen, sprach sie zu ihrem Enkel: Was ist dein Vater doch für ein Narr! Macht er da nicht ein Gelärm, als ob ich ein fünfmonatlich Wickelkind wäre? Und wenn die Welt um ein alt Weib weniger wird? Mein Mann hat schon lang genug auf mich gewart't — Laut weinend stürzte der Knabe an das Bett seiner Großmutter. Narrele, sagte sie unter wunderbarer Rührung, meinst du denn, der Mensch ist auf der Welt da, damit er sich alle Woch' einen guten Schabbes macht? Gott der Allmächtige im siebenten Himmel droben, der weiß nur zu gut, wenn der Uhr, die in uns steckt, ein Rädel ausgebrochen ist. Was thäten denn so viele Menschen auf der Welt? Daß man noch mehr Leid und Kummer vor sich sieht? Ich sag' dir, Fischele Leben, die zwei Augen, die sich einmal zugemacht haben, die machen sich nicht wieder auf, und wenn du eine ganze Kiste mit Gold und Perlen vor sie hinstellst. Daher lang' du mir nur mein Wanderbüchel her, ich hab' noch drei Tag' vor mir, die möcht' ich gern für den großen Weg mich gehörig vorbereiten und zurichten, denn man weiß nicht, zu welchem großen Herrn man jetzt kommt. — Der Jäger im stillen Walde hat es schon oft erfahren, wie das Wild, dem er nachgesetzt, mit der <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <pb facs="#f0170"/> <p>Die Großmutter schüttelte bedenklich den Kopf; ihren Blick unverwandt an der Thür hastend, durch die Josseph so zornig gegangen, sprach sie zu ihrem Enkel:</p><lb/> <p>Was ist dein Vater doch für ein Narr! Macht er da nicht ein Gelärm, als ob ich ein fünfmonatlich Wickelkind wäre? Und wenn die Welt um ein alt Weib weniger wird? Mein Mann hat schon lang genug auf mich gewart't —</p><lb/> <p>Laut weinend stürzte der Knabe an das Bett seiner Großmutter. Narrele, sagte sie unter wunderbarer Rührung, meinst du denn, der Mensch ist auf der Welt da, damit er sich alle Woch' einen guten Schabbes macht? Gott der Allmächtige im siebenten Himmel droben, der weiß nur zu gut, wenn der Uhr, die in uns steckt, ein Rädel ausgebrochen ist. Was thäten denn so viele Menschen auf der Welt? Daß man noch mehr Leid und Kummer vor sich sieht? Ich sag' dir, Fischele Leben, die zwei Augen, die sich einmal zugemacht haben, die machen sich nicht wieder auf, und wenn du eine ganze Kiste mit Gold und Perlen vor sie hinstellst. Daher lang' du mir nur mein Wanderbüchel her, ich hab' noch drei Tag' vor mir, die möcht' ich gern für den großen Weg mich gehörig vorbereiten und zurichten, denn man weiß nicht, zu welchem großen Herrn man jetzt kommt. —</p><lb/> <p>Der Jäger im stillen Walde hat es schon oft erfahren, wie das Wild, dem er nachgesetzt, mit der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0170]
Die Großmutter schüttelte bedenklich den Kopf; ihren Blick unverwandt an der Thür hastend, durch die Josseph so zornig gegangen, sprach sie zu ihrem Enkel:
Was ist dein Vater doch für ein Narr! Macht er da nicht ein Gelärm, als ob ich ein fünfmonatlich Wickelkind wäre? Und wenn die Welt um ein alt Weib weniger wird? Mein Mann hat schon lang genug auf mich gewart't —
Laut weinend stürzte der Knabe an das Bett seiner Großmutter. Narrele, sagte sie unter wunderbarer Rührung, meinst du denn, der Mensch ist auf der Welt da, damit er sich alle Woch' einen guten Schabbes macht? Gott der Allmächtige im siebenten Himmel droben, der weiß nur zu gut, wenn der Uhr, die in uns steckt, ein Rädel ausgebrochen ist. Was thäten denn so viele Menschen auf der Welt? Daß man noch mehr Leid und Kummer vor sich sieht? Ich sag' dir, Fischele Leben, die zwei Augen, die sich einmal zugemacht haben, die machen sich nicht wieder auf, und wenn du eine ganze Kiste mit Gold und Perlen vor sie hinstellst. Daher lang' du mir nur mein Wanderbüchel her, ich hab' noch drei Tag' vor mir, die möcht' ich gern für den großen Weg mich gehörig vorbereiten und zurichten, denn man weiß nicht, zu welchem großen Herrn man jetzt kommt. —
Der Jäger im stillen Walde hat es schon oft erfahren, wie das Wild, dem er nachgesetzt, mit der
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/170>, abgerufen am 16.07.2024. |