Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Ohr vorübergerauscht zu sein. Es schnitt dies Josseph bitter durchs Herz.

Weißt du, Josseph, fuhr sie plötzlich wie aus einem Traume auf, was dein Urdede, von dem meine Mutter die Tochter ist gewesen, immer gesagt hat: nicht sollt ihr wissen, was man Alles thun darf.

Entsetzt sah Josseph seine Mutter an. War der Augenblick bereits gekommen, wo der Geist, nicht mächtig mehr, den zerfallenden Leib zu beherrschen, verrätherisch ihn verläßt und aus seinen Bahnen tritt? Noch mehr erstarrte er, als die alte Frau fortfuhr:

Weil ich gerad von meinem Urdede höre, da ist mir eingefallen, daß ich noch etwas von ihm hab', was schon vielleicht über hundert Jahre muß alt sein. Du mußt nämlich wissen, und als Kind hab' ich dir's verzählt: dein Urdede ist ein gewaltig frommer und großer Mann gewesen, sie haben ihm aber alle zehn Bücher, die er hat geschrieben, am Erew Jom Kipur draußen vor der Schul' verbrannt. Es ist nicht ein Blatt zurückgeblieben, haben die Leut' gemeint, aber meine Mamme, die war ein gescheidt Weib, hat auf ihrem Sterbebette mir's doch verrathen, ich hab's nur Keinem sagen dürfen, daß noch etwas da ist von dem guten, frommen Urdede. Dort im Kasten, in der untersten Schublade, gerade dort, wo meine Tachrichim (Sterbekleider) liegen, da wirst du's finden; es sind nur so ein paar beschriebene Blätter. Wenn ich jetzt zu meinem Urdede werd' kommen, und er mich fragt:

Ohr vorübergerauscht zu sein. Es schnitt dies Josseph bitter durchs Herz.

Weißt du, Josseph, fuhr sie plötzlich wie aus einem Traume auf, was dein Urdede, von dem meine Mutter die Tochter ist gewesen, immer gesagt hat: nicht sollt ihr wissen, was man Alles thun darf.

Entsetzt sah Josseph seine Mutter an. War der Augenblick bereits gekommen, wo der Geist, nicht mächtig mehr, den zerfallenden Leib zu beherrschen, verrätherisch ihn verläßt und aus seinen Bahnen tritt? Noch mehr erstarrte er, als die alte Frau fortfuhr:

Weil ich gerad von meinem Urdede höre, da ist mir eingefallen, daß ich noch etwas von ihm hab', was schon vielleicht über hundert Jahre muß alt sein. Du mußt nämlich wissen, und als Kind hab' ich dir's verzählt: dein Urdede ist ein gewaltig frommer und großer Mann gewesen, sie haben ihm aber alle zehn Bücher, die er hat geschrieben, am Erew Jom Kipur draußen vor der Schul' verbrannt. Es ist nicht ein Blatt zurückgeblieben, haben die Leut' gemeint, aber meine Mamme, die war ein gescheidt Weib, hat auf ihrem Sterbebette mir's doch verrathen, ich hab's nur Keinem sagen dürfen, daß noch etwas da ist von dem guten, frommen Urdede. Dort im Kasten, in der untersten Schublade, gerade dort, wo meine Tachrichim (Sterbekleider) liegen, da wirst du's finden; es sind nur so ein paar beschriebene Blätter. Wenn ich jetzt zu meinem Urdede werd' kommen, und er mich fragt:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="12">
        <p><pb facs="#f0179"/>
Ohr                vorübergerauscht zu sein. Es schnitt dies Josseph bitter durchs Herz.</p><lb/>
        <p>Weißt du, Josseph, fuhr sie plötzlich wie aus einem Traume auf, was dein Urdede, von                dem meine Mutter die Tochter ist gewesen, immer gesagt hat: nicht sollt ihr wissen,                was man Alles thun darf.</p><lb/>
        <p>Entsetzt sah Josseph seine Mutter an. War der Augenblick bereits gekommen, wo der                Geist, nicht mächtig mehr, den zerfallenden Leib zu beherrschen, verrätherisch ihn                verläßt und aus seinen Bahnen tritt? Noch mehr erstarrte er, als die alte Frau                fortfuhr:</p><lb/>
        <p>Weil ich gerad von meinem Urdede höre, da ist mir eingefallen, daß ich noch etwas von                ihm hab', was schon vielleicht über hundert Jahre muß alt sein. Du mußt nämlich                wissen, und als Kind hab' ich dir's verzählt: dein Urdede ist ein gewaltig frommer                und großer Mann gewesen, sie haben ihm aber alle zehn Bücher, die er hat geschrieben,                am Erew Jom Kipur draußen vor der Schul' verbrannt. Es ist nicht ein Blatt                zurückgeblieben, haben die Leut' gemeint, aber meine Mamme, die war ein gescheidt                Weib, hat auf ihrem Sterbebette mir's doch verrathen, ich hab's nur Keinem sagen                dürfen, daß noch etwas da ist von dem guten, frommen Urdede. Dort im Kasten, in der                untersten Schublade, gerade dort, wo meine Tachrichim (Sterbekleider) liegen, da                wirst du's finden; es sind nur so ein paar beschriebene Blätter. Wenn ich jetzt zu                meinem Urdede werd' kommen, und er mich fragt:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Ohr vorübergerauscht zu sein. Es schnitt dies Josseph bitter durchs Herz. Weißt du, Josseph, fuhr sie plötzlich wie aus einem Traume auf, was dein Urdede, von dem meine Mutter die Tochter ist gewesen, immer gesagt hat: nicht sollt ihr wissen, was man Alles thun darf. Entsetzt sah Josseph seine Mutter an. War der Augenblick bereits gekommen, wo der Geist, nicht mächtig mehr, den zerfallenden Leib zu beherrschen, verrätherisch ihn verläßt und aus seinen Bahnen tritt? Noch mehr erstarrte er, als die alte Frau fortfuhr: Weil ich gerad von meinem Urdede höre, da ist mir eingefallen, daß ich noch etwas von ihm hab', was schon vielleicht über hundert Jahre muß alt sein. Du mußt nämlich wissen, und als Kind hab' ich dir's verzählt: dein Urdede ist ein gewaltig frommer und großer Mann gewesen, sie haben ihm aber alle zehn Bücher, die er hat geschrieben, am Erew Jom Kipur draußen vor der Schul' verbrannt. Es ist nicht ein Blatt zurückgeblieben, haben die Leut' gemeint, aber meine Mamme, die war ein gescheidt Weib, hat auf ihrem Sterbebette mir's doch verrathen, ich hab's nur Keinem sagen dürfen, daß noch etwas da ist von dem guten, frommen Urdede. Dort im Kasten, in der untersten Schublade, gerade dort, wo meine Tachrichim (Sterbekleider) liegen, da wirst du's finden; es sind nur so ein paar beschriebene Blätter. Wenn ich jetzt zu meinem Urdede werd' kommen, und er mich fragt:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/179
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/179>, abgerufen am 18.05.2024.