Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.15. Ueber einem Grab. Zwischen den beiden Frauen bedurfte es keiner Verständigung, kaum daß mit einem Worte der letzten Jahre Erwähnung geschah. Dafür mußte Madlena all ihre Kinder herbeiholen lassen, sogar den Säugling in der Wiege, um sie den Augen der Großmutter vorzuführen, die mit unendlicher Seligkeit auf ihnen ruhten. Von dem ältesten Mädchen Madlena's sagte sie, sie habe viele Aehnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter, der Knabe dagegen hatte ganz die Augen und den Mund vom Großvater, und daß der Säugling einmal ganz Fischele sein werde, da könne nur ein Blinder daran zweifeln. Sonderbar, nach ihrem Schwiegersohn Pawel erkundigte sie sich nicht, so oft auch Madlena mit Absicht seiner erwähnte. Ging er die Großmutter nichts an, oder genügte es ihr, daß sie die Tochter wieder hatte? Als die Nacht herankam, wurden die Kinder Madlena's nach Hause geführt; sie selbst blieb; auch wäre sie von dem Bette ihrer sterbenden Mutter nicht zu entfernen gewesen. Marjim verrieth übrigens durch kein irgendwie auffallendes Symptom, daß die letzte Stunde ihr so nahe sei. Sie war aller ihrer Sinne mächtig, in überirdischer Aufregung leuchtete ihr Verstand, und mehr als einmal trafen aus Madlena's und 15. Ueber einem Grab. Zwischen den beiden Frauen bedurfte es keiner Verständigung, kaum daß mit einem Worte der letzten Jahre Erwähnung geschah. Dafür mußte Madlena all ihre Kinder herbeiholen lassen, sogar den Säugling in der Wiege, um sie den Augen der Großmutter vorzuführen, die mit unendlicher Seligkeit auf ihnen ruhten. Von dem ältesten Mädchen Madlena's sagte sie, sie habe viele Aehnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter, der Knabe dagegen hatte ganz die Augen und den Mund vom Großvater, und daß der Säugling einmal ganz Fischele sein werde, da könne nur ein Blinder daran zweifeln. Sonderbar, nach ihrem Schwiegersohn Pawel erkundigte sie sich nicht, so oft auch Madlena mit Absicht seiner erwähnte. Ging er die Großmutter nichts an, oder genügte es ihr, daß sie die Tochter wieder hatte? Als die Nacht herankam, wurden die Kinder Madlena's nach Hause geführt; sie selbst blieb; auch wäre sie von dem Bette ihrer sterbenden Mutter nicht zu entfernen gewesen. Marjim verrieth übrigens durch kein irgendwie auffallendes Symptom, daß die letzte Stunde ihr so nahe sei. Sie war aller ihrer Sinne mächtig, in überirdischer Aufregung leuchtete ihr Verstand, und mehr als einmal trafen aus Madlena's und <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0210"/> <div type="chapter" n="15"> <head>15. Ueber einem Grab.</head> <p>Zwischen den beiden Frauen bedurfte es keiner Verständigung, kaum daß mit einem Worte der letzten Jahre Erwähnung geschah.</p><lb/> <p>Dafür mußte Madlena all ihre Kinder herbeiholen lassen, sogar den Säugling in der Wiege, um sie den Augen der Großmutter vorzuführen, die mit unendlicher Seligkeit auf ihnen ruhten. Von dem ältesten Mädchen Madlena's sagte sie, sie habe viele Aehnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter, der Knabe dagegen hatte ganz die Augen und den Mund vom Großvater, und daß der Säugling einmal ganz Fischele sein werde, da könne nur ein Blinder daran zweifeln. Sonderbar, nach ihrem Schwiegersohn Pawel erkundigte sie sich nicht, so oft auch Madlena mit Absicht seiner erwähnte. Ging er die Großmutter nichts an, oder genügte es ihr, daß sie die Tochter wieder hatte?</p><lb/> <p>Als die Nacht herankam, wurden die Kinder Madlena's nach Hause geführt; sie selbst blieb; auch wäre sie von dem Bette ihrer sterbenden Mutter nicht zu entfernen gewesen. Marjim verrieth übrigens durch kein irgendwie auffallendes Symptom, daß die letzte Stunde ihr so nahe sei. Sie war aller ihrer Sinne mächtig, in überirdischer Aufregung leuchtete ihr Verstand, und mehr als einmal trafen aus Madlena's und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0210]
15. Ueber einem Grab. Zwischen den beiden Frauen bedurfte es keiner Verständigung, kaum daß mit einem Worte der letzten Jahre Erwähnung geschah.
Dafür mußte Madlena all ihre Kinder herbeiholen lassen, sogar den Säugling in der Wiege, um sie den Augen der Großmutter vorzuführen, die mit unendlicher Seligkeit auf ihnen ruhten. Von dem ältesten Mädchen Madlena's sagte sie, sie habe viele Aehnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter, der Knabe dagegen hatte ganz die Augen und den Mund vom Großvater, und daß der Säugling einmal ganz Fischele sein werde, da könne nur ein Blinder daran zweifeln. Sonderbar, nach ihrem Schwiegersohn Pawel erkundigte sie sich nicht, so oft auch Madlena mit Absicht seiner erwähnte. Ging er die Großmutter nichts an, oder genügte es ihr, daß sie die Tochter wieder hatte?
Als die Nacht herankam, wurden die Kinder Madlena's nach Hause geführt; sie selbst blieb; auch wäre sie von dem Bette ihrer sterbenden Mutter nicht zu entfernen gewesen. Marjim verrieth übrigens durch kein irgendwie auffallendes Symptom, daß die letzte Stunde ihr so nahe sei. Sie war aller ihrer Sinne mächtig, in überirdischer Aufregung leuchtete ihr Verstand, und mehr als einmal trafen aus Madlena's und
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/210>, abgerufen am 16.07.2024. |