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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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es erleben, daß nebenan in der Kirche die Glocke geläutet ward, als man das Kind ihrer Tochter zur Taufe trug; sie sah das Tuch mit dem darauf gestickten Kreuz, das über dem Sprößling aus jüdischem Blut lag, und ihre Sinne vergingen dennoch nicht, als sie den Geistlichen aus der Kirche kommen sah, hinter ihm die Hebamme mit dem getauften Kind, über das nicht die Worte des altgeschichtlichen, schon von Abraham bekräftigten Bundesvertrags mit Gott, sondern die heilige Dreifaltigkeit ihre Schwingen gebreitet hatte

Es wird Viele sonderbar bedünken, wenn wir für die alte Marjim das Geständniß ablegen, daß sie keines von ihren Enkelkindern kannte; sie wußte wohl, wie groß der "Familienstand" ihrer Tochter sei, aber von Angesicht zu Angesicht hatte sie noch keines gesehen. Wenn sie durchs Dorf ging, getraute sie sich nicht, eines der ihr begegnenden Kinder um seinen Namen zu fragen, oder wem es angehöre. Wie oft kam sie an dem Hause der Bäuerin Madlena vorüber und sah dort spielende Kinder vor dem Thore -- und trippelte eiligst vorbei, ohne sich aufzuhalten. Wie oft kam sie entsetzt und erschöpft nach Hause, daß man sie fragen mußte: Mamme, ist dir was passirt, was ist dir über den Weg gekrochen? daß sie dann bitterlich weinend in die Worte ausbrach: Kann ich dafür, daß sie nicht hundert Meilen von hier wohnt? Wenn sie gestorben sein wird, werd' ich Ruh' von ihr haben. --

Es war leicht gesagt, aber schwer geändert, daß

es erleben, daß nebenan in der Kirche die Glocke geläutet ward, als man das Kind ihrer Tochter zur Taufe trug; sie sah das Tuch mit dem darauf gestickten Kreuz, das über dem Sprößling aus jüdischem Blut lag, und ihre Sinne vergingen dennoch nicht, als sie den Geistlichen aus der Kirche kommen sah, hinter ihm die Hebamme mit dem getauften Kind, über das nicht die Worte des altgeschichtlichen, schon von Abraham bekräftigten Bundesvertrags mit Gott, sondern die heilige Dreifaltigkeit ihre Schwingen gebreitet hatte

Es wird Viele sonderbar bedünken, wenn wir für die alte Marjim das Geständniß ablegen, daß sie keines von ihren Enkelkindern kannte; sie wußte wohl, wie groß der „Familienstand“ ihrer Tochter sei, aber von Angesicht zu Angesicht hatte sie noch keines gesehen. Wenn sie durchs Dorf ging, getraute sie sich nicht, eines der ihr begegnenden Kinder um seinen Namen zu fragen, oder wem es angehöre. Wie oft kam sie an dem Hause der Bäuerin Madlena vorüber und sah dort spielende Kinder vor dem Thore — und trippelte eiligst vorbei, ohne sich aufzuhalten. Wie oft kam sie entsetzt und erschöpft nach Hause, daß man sie fragen mußte: Mamme, ist dir was passirt, was ist dir über den Weg gekrochen? daß sie dann bitterlich weinend in die Worte ausbrach: Kann ich dafür, daß sie nicht hundert Meilen von hier wohnt? Wenn sie gestorben sein wird, werd' ich Ruh' von ihr haben. —

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/35>, abgerufen am 03.05.2024.