in der That schwer, in wenigen Sätzen so viel Verkehrtheiten zu sagen, die ein Blick in ein beliebiges Lehrbuch der Psychiatrie ohne Weiteres hätte vermeiden lassen.
Erheblich gründlicher ist die Darstellung der psychischen Alkohol- wirkung, welche Schmiedeberg und Bunge geben. Der Erstere *) legt das Hauptgewicht auf die Lähmung "der Aufmerksamkeit, des Urtheils und der Reflexion", aus denen er die Kritiklosigkeit gegen- über geistigen Leistungen, aber auch den erhöhten Muth, die Be- seitigung der Verlegenheit, das grössere Vertrauen zur eigenen Muskel- kraft ableitet. Dazu kommt dann noch die "mangelhafte Beherrschung der Gemeingefühle", welche den Wechsel zwischen Heiterkeit und un- motivirter Traurigkeit, das Auftreten von Streitsucht oder ungewöhn- licher Friedfertigkeit erklären sollen. In ganz ähnlicher Weise sieht Bunge**) als Grundstörung die Lähmung des klaren Urtheils, der Kritik an. Daraus entspringt nach seiner Meinung die Offenherzig- keit und Mittheilsamkeit, die Sorglosigkeit und der Lebensmuth des Trinkenden -- "er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren". Auch die Beseitigung der psychischen Schmerzen, des Kummers, der Sorgen, soll einfach aus einer Betäubung des Missbehagens hervorgehen. Die grössere Lebhaftigkeit der Körperbewegungen entsteht dadurch, dass die Schranke wegfällt, "welche der Nüchterne jedem Anlass zu un- nöthigen Bewegungen entgegenstellt, um seine Kräfte zu schonen". Das Müdigkeitsgefühl wird betäubt und dadurch der Glaube hervor- gerufen, dass der Alkohol den Müden zu neuer Leistung und An- strengung stärke.
Der Widerspruch dieser Ausführungen mit meinen Versuchser- gebnissen liegt wesentlich in dem Umstande, dass die beiden genannten Autoren alle psychischen Erscheinungen der Alkoholvergiftung ledig- lich aus dem Wegfall gewisser normaler Functionen unseres Seelen- lebens zu erklären suchen. Bei Bunge ist die Grundlage des ganzen Symptomencomplexes eine Lähmung des Urtheils, bei Schmiede- berg besteht ausserdem noch eine mangelhafte Beherrschung der Ge- meingefühle. Dass zum mindesten die erstere Störung, die Schwächung der Intelligenz, nun und nimmermehr ausreichen kann, um das psy- chische Bild der Alkoholvergiftung zu erzeugen, lässt sich bei genauerer Ueberlegung, wie mir scheint, auch ohne besondere Versuche erkennen. Leichtere und schwerere Bewusstseinstrübungen, ganz nach Art der
*) Grundriss der Arzneimittellehre, 2. Auflage, 1888, p. 26.
**) Die Alkoholfrage, 1887, p. 4 ss.
in der That schwer, in wenigen Sätzen so viel Verkehrtheiten zu sagen, die ein Blick in ein beliebiges Lehrbuch der Psychiatrie ohne Weiteres hätte vermeiden lassen.
Erheblich gründlicher ist die Darstellung der psychischen Alkohol- wirkung, welche Schmiedeberg und Bunge geben. Der Erstere *) legt das Hauptgewicht auf die Lähmung „der Aufmerksamkeit, des Urtheils und der Reflexion“, aus denen er die Kritiklosigkeit gegen- über geistigen Leistungen, aber auch den erhöhten Muth, die Be- seitigung der Verlegenheit, das grössere Vertrauen zur eigenen Muskel- kraft ableitet. Dazu kommt dann noch die „mangelhafte Beherrschung der Gemeingefühle“, welche den Wechsel zwischen Heiterkeit und un- motivirter Traurigkeit, das Auftreten von Streitsucht oder ungewöhn- licher Friedfertigkeit erklären sollen. In ganz ähnlicher Weise sieht Bunge**) als Grundstörung die Lähmung des klaren Urtheils, der Kritik an. Daraus entspringt nach seiner Meinung die Offenherzig- keit und Mittheilsamkeit, die Sorglosigkeit und der Lebensmuth des Trinkenden — „er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren“. Auch die Beseitigung der psychischen Schmerzen, des Kummers, der Sorgen, soll einfach aus einer Betäubung des Missbehagens hervorgehen. Die grössere Lebhaftigkeit der Körperbewegungen entsteht dadurch, dass die Schranke wegfällt, „welche der Nüchterne jedem Anlass zu un- nöthigen Bewegungen entgegenstellt, um seine Kräfte zu schonen“. Das Müdigkeitsgefühl wird betäubt und dadurch der Glaube hervor- gerufen, dass der Alkohol den Müden zu neuer Leistung und An- strengung stärke.
Der Widerspruch dieser Ausführungen mit meinen Versuchser- gebnissen liegt wesentlich in dem Umstande, dass die beiden genannten Autoren alle psychischen Erscheinungen der Alkoholvergiftung ledig- lich aus dem Wegfall gewisser normaler Functionen unseres Seelen- lebens zu erklären suchen. Bei Bunge ist die Grundlage des ganzen Symptomencomplexes eine Lähmung des Urtheils, bei Schmiede- berg besteht ausserdem noch eine mangelhafte Beherrschung der Ge- meingefühle. Dass zum mindesten die erstere Störung, die Schwächung der Intelligenz, nun und nimmermehr ausreichen kann, um das psy- chische Bild der Alkoholvergiftung zu erzeugen, lässt sich bei genauerer Ueberlegung, wie mir scheint, auch ohne besondere Versuche erkennen. Leichtere und schwerere Bewusstseinstrübungen, ganz nach Art der
*) Grundriss der Arzneimittellehre, 2. Auflage, 1888, p. 26.
**) Die Alkoholfrage, 1887, p. 4 ss.
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in der That schwer, in wenigen Sätzen so viel Verkehrtheiten zu sagen,
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hätte vermeiden lassen.
Erheblich gründlicher ist die Darstellung der psychischen Alkohol-
wirkung, welche Schmiedeberg und Bunge geben. Der Erstere *)
legt das Hauptgewicht auf die Lähmung „der Aufmerksamkeit, des
Urtheils und der Reflexion“, aus denen er die Kritiklosigkeit gegen-
über geistigen Leistungen, aber auch den erhöhten Muth, die Be-
seitigung der Verlegenheit, das grössere Vertrauen zur eigenen Muskel-
kraft ableitet. Dazu kommt dann noch die „mangelhafte Beherrschung
der Gemeingefühle“, welche den Wechsel zwischen Heiterkeit und un-
motivirter Traurigkeit, das Auftreten von Streitsucht oder ungewöhn-
licher Friedfertigkeit erklären sollen. In ganz ähnlicher Weise sieht
Bunge **) als Grundstörung die Lähmung des klaren Urtheils, der
Kritik an. Daraus entspringt nach seiner Meinung die Offenherzig-
keit und Mittheilsamkeit, die Sorglosigkeit und der Lebensmuth des
Trinkenden — „er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren“. Auch
die Beseitigung der psychischen Schmerzen, des Kummers, der Sorgen,
soll einfach aus einer Betäubung des Missbehagens hervorgehen. Die
grössere Lebhaftigkeit der Körperbewegungen entsteht dadurch, dass
die Schranke wegfällt, „welche der Nüchterne jedem Anlass zu un-
nöthigen Bewegungen entgegenstellt, um seine Kräfte zu schonen“.
Das Müdigkeitsgefühl wird betäubt und dadurch der Glaube hervor-
gerufen, dass der Alkohol den Müden zu neuer Leistung und An-
strengung stärke.
Der Widerspruch dieser Ausführungen mit meinen Versuchser-
gebnissen liegt wesentlich in dem Umstande, dass die beiden genannten
Autoren alle psychischen Erscheinungen der Alkoholvergiftung ledig-
lich aus dem Wegfall gewisser normaler Functionen unseres Seelen-
lebens zu erklären suchen. Bei Bunge ist die Grundlage des ganzen
Symptomencomplexes eine Lähmung des Urtheils, bei Schmiede-
berg besteht ausserdem noch eine mangelhafte Beherrschung der Ge-
meingefühle. Dass zum mindesten die erstere Störung, die Schwächung
der Intelligenz, nun und nimmermehr ausreichen kann, um das psy-
chische Bild der Alkoholvergiftung zu erzeugen, lässt sich bei genauerer
Ueberlegung, wie mir scheint, auch ohne besondere Versuche erkennen.
Leichtere und schwerere Bewusstseinstrübungen, ganz nach Art der
*) Grundriss der Arzneimittellehre, 2. Auflage, 1888, p. 26.
**) Die Alkoholfrage, 1887, p. 4 ss.
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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/213>, abgerufen am 16.07.2024.
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