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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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sehr zweifelhaft. Höchstens finden sich unter den Leseversuchen ein-
zelne (M., De., K.), bei denen der verschiedene Verlauf der Normal-
und der Theereihen eine solche Annahme nahe legen würde. Für
diese Fälle wäre wol eine periphere Entstehungsweise, eine stärkere
Ermüdung der Muskeln nach der anfänglichen Erhöhung der Arbeits-
leistung, am wahrscheinlichsten. Der abweichende Ausfall der Dyna-
mometerversuche würde wegen ihrer kürzeren Dauer nicht unbedingt
dagegen sprechen. Uebrigens war die von mir angewandte Dosis
immerhin ziemlich gering. Doch ist zu bemerken, dass auch Dehio
mit der doppelten Gabe hinsichtlich der secundären Ermüdung keine
entschiedeneren Resultate erhielt, wenn wir das Fehlen normaler Ver-
gleichsreihen berücksichtigen. Nur der verkürzende Einfluss war bei seinen
Associationsversuchen weit deutlicher, als bei mir, ein neuer Beweis da-
für, dass diese für den Thee die eigentlich charakteristische Wirkung ist.

Das Bild, welches wir bis hierhin von der Theewirkung ge-
wonnen haben, entspricht in allen wesentlichen Zügen den Erfah-
rungen des täglichen Lebens. Wir wissen, dass Thee und Kaffee
unsere intellectuelle Leistungsfähigkeit in entschiedener Weise anregen,
und benutzen dieselben daher überall, wo es sich darum handelt, die
geistige Ermüdung zu bekämpfen, wie auch Dehio *) ausführlich
dargelegt hat. Am Morgen beseitigen jene Getränke die letzten Spuren
der Schläfrigkeit, und am Abend erhalten sie uns wach, wenn wir
noch irgendwelche intellectuelle Aufgaben zu lösen haben. In grösseren
Gaben und bei empfindlichen Personen verhindert ihr Genuss für
längere Zeit den Eintritt des Schlafes. Niemals dagegen entwickelt
sich durch Thee und Kaffee jene motorische Erregung des Alkohol-
rausches, jene Neigung zum Lärmmachen und zu unbesonnenem
Handeln, niemals die eigenthümliche Euphorie, das gesteigerte Kraft-
bewusstsein des Angetrunkenen. An ihre Stelle tritt eine grössere
Lebhaftigkeit und Klarheit der Gedanken, die aber durchaus nicht
ohne Weiteres auch eine grössere Mittheilsamkeit nach sich zieht.
Andererseits bleibt die secundäre Ermüdung hier ganz aus oder ist
doch sehr gering, während sie auch dem mässigen Alkoholgenusse
mit unfehlbarer Sicherheit rasch nachfolgt. Mit Recht benutzen wir
daher Kaffee und Thee als Gegengifte gegen den Alkohol. Eine
reichliche Mahlzeit erzeugt an sich schon einen gewissen Grad von
Müdigkeit, vielleicht wegen der durch sie bewirkten Hirnanämie. Durch
den Alkoholgenuss wird der Eintritt der psychischen Abstumpfung

*) Lit. VI, p. 53.

sehr zweifelhaft. Höchstens finden sich unter den Leseversuchen ein-
zelne (M., De., K.), bei denen der verschiedene Verlauf der Normal-
und der Theereihen eine solche Annahme nahe legen würde. Für
diese Fälle wäre wol eine periphere Entstehungsweise, eine stärkere
Ermüdung der Muskeln nach der anfänglichen Erhöhung der Arbeits-
leistung, am wahrscheinlichsten. Der abweichende Ausfall der Dyna-
mometerversuche würde wegen ihrer kürzeren Dauer nicht unbedingt
dagegen sprechen. Uebrigens war die von mir angewandte Dosis
immerhin ziemlich gering. Doch ist zu bemerken, dass auch Dehio
mit der doppelten Gabe hinsichtlich der secundären Ermüdung keine
entschiedeneren Resultate erhielt, wenn wir das Fehlen normaler Ver-
gleichsreihen berücksichtigen. Nur der verkürzende Einfluss war bei seinen
Associationsversuchen weit deutlicher, als bei mir, ein neuer Beweis da-
für, dass diese für den Thee die eigentlich charakteristische Wirkung ist.

Das Bild, welches wir bis hierhin von der Theewirkung ge-
wonnen haben, entspricht in allen wesentlichen Zügen den Erfah-
rungen des täglichen Lebens. Wir wissen, dass Thee und Kaffee
unsere intellectuelle Leistungsfähigkeit in entschiedener Weise anregen,
und benutzen dieselben daher überall, wo es sich darum handelt, die
geistige Ermüdung zu bekämpfen, wie auch Dehio *) ausführlich
dargelegt hat. Am Morgen beseitigen jene Getränke die letzten Spuren
der Schläfrigkeit, und am Abend erhalten sie uns wach, wenn wir
noch irgendwelche intellectuelle Aufgaben zu lösen haben. In grösseren
Gaben und bei empfindlichen Personen verhindert ihr Genuss für
längere Zeit den Eintritt des Schlafes. Niemals dagegen entwickelt
sich durch Thee und Kaffee jene motorische Erregung des Alkohol-
rausches, jene Neigung zum Lärmmachen und zu unbesonnenem
Handeln, niemals die eigenthümliche Euphorie, das gesteigerte Kraft-
bewusstsein des Angetrunkenen. An ihre Stelle tritt eine grössere
Lebhaftigkeit und Klarheit der Gedanken, die aber durchaus nicht
ohne Weiteres auch eine grössere Mittheilsamkeit nach sich zieht.
Andererseits bleibt die secundäre Ermüdung hier ganz aus oder ist
doch sehr gering, während sie auch dem mässigen Alkoholgenusse
mit unfehlbarer Sicherheit rasch nachfolgt. Mit Recht benutzen wir
daher Kaffee und Thee als Gegengifte gegen den Alkohol. Eine
reichliche Mahlzeit erzeugt an sich schon einen gewissen Grad von
Müdigkeit, vielleicht wegen der durch sie bewirkten Hirnanämie. Durch
den Alkoholgenuss wird der Eintritt der psychischen Abstumpfung

*) Lit. VI, p. 53.
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[224/0240] sehr zweifelhaft. Höchstens finden sich unter den Leseversuchen ein- zelne (M., De., K.), bei denen der verschiedene Verlauf der Normal- und der Theereihen eine solche Annahme nahe legen würde. Für diese Fälle wäre wol eine periphere Entstehungsweise, eine stärkere Ermüdung der Muskeln nach der anfänglichen Erhöhung der Arbeits- leistung, am wahrscheinlichsten. Der abweichende Ausfall der Dyna- mometerversuche würde wegen ihrer kürzeren Dauer nicht unbedingt dagegen sprechen. Uebrigens war die von mir angewandte Dosis immerhin ziemlich gering. Doch ist zu bemerken, dass auch Dehio mit der doppelten Gabe hinsichtlich der secundären Ermüdung keine entschiedeneren Resultate erhielt, wenn wir das Fehlen normaler Ver- gleichsreihen berücksichtigen. Nur der verkürzende Einfluss war bei seinen Associationsversuchen weit deutlicher, als bei mir, ein neuer Beweis da- für, dass diese für den Thee die eigentlich charakteristische Wirkung ist. Das Bild, welches wir bis hierhin von der Theewirkung ge- wonnen haben, entspricht in allen wesentlichen Zügen den Erfah- rungen des täglichen Lebens. Wir wissen, dass Thee und Kaffee unsere intellectuelle Leistungsfähigkeit in entschiedener Weise anregen, und benutzen dieselben daher überall, wo es sich darum handelt, die geistige Ermüdung zu bekämpfen, wie auch Dehio *) ausführlich dargelegt hat. Am Morgen beseitigen jene Getränke die letzten Spuren der Schläfrigkeit, und am Abend erhalten sie uns wach, wenn wir noch irgendwelche intellectuelle Aufgaben zu lösen haben. In grösseren Gaben und bei empfindlichen Personen verhindert ihr Genuss für längere Zeit den Eintritt des Schlafes. Niemals dagegen entwickelt sich durch Thee und Kaffee jene motorische Erregung des Alkohol- rausches, jene Neigung zum Lärmmachen und zu unbesonnenem Handeln, niemals die eigenthümliche Euphorie, das gesteigerte Kraft- bewusstsein des Angetrunkenen. An ihre Stelle tritt eine grössere Lebhaftigkeit und Klarheit der Gedanken, die aber durchaus nicht ohne Weiteres auch eine grössere Mittheilsamkeit nach sich zieht. Andererseits bleibt die secundäre Ermüdung hier ganz aus oder ist doch sehr gering, während sie auch dem mässigen Alkoholgenusse mit unfehlbarer Sicherheit rasch nachfolgt. Mit Recht benutzen wir daher Kaffee und Thee als Gegengifte gegen den Alkohol. Eine reichliche Mahlzeit erzeugt an sich schon einen gewissen Grad von Müdigkeit, vielleicht wegen der durch sie bewirkten Hirnanämie. Durch den Alkoholgenuss wird der Eintritt der psychischen Abstumpfung *) Lit. VI, p. 53.

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/240>, abgerufen am 27.11.2024.