Kraus, Otto: Der Professorenroman. In: Zeitfragen des christlichen Volkslebens/ Band IX. Heft 4 (1884).entfernte den Zipfel des Mantels, welcher sein Haupt bedeckt entfernte den Zipfel des Mantels, welcher ſein Haupt bedeckt <TEI> <text> <body> <p><pb facs="#f0036" n="36 228"/> entfernte den Zipfel des Mantels, welcher ſein Haupt bedeckt<lb/> hatte, von dem Antlitz, richtete ſich langſam auf und ſagte, ohne<lb/> ſeine liegende Stellung aufzugeben, mit äußerſt wohllautender<lb/> Stimme ganz ſchlicht und gelaſſen: „Du biſt es, Xanthe?‟ Ja,<lb/> ſchlicht und gelaſſen, matt und langweilig reiht ſich Frage an<lb/> Frage bis zu der letzten: „O Xanthe, liebe, einzige Xanthe,<lb/> willſt du mich oder unſeren Vetter Leonax zum Gatten?‟ Die<lb/> Antwort mitzutheilen iſt überflüſſig. Zur Einleitung hatte ja die<lb/> Schöne dreimal gehuſtet — um einen Laut zu vernehmen! —<lb/> Wir hatten früher immer geglaubt, Ebers male die Geſchlechts-<lb/> liebe in der alten Welt grundſätzlich mit matten, gedämpften,<lb/> gebrochenen Farben, die Bekanntſchaft mit der „Bürgermeiſterin‟<lb/> ergibt aber, daß er dieſe Art Malerei für allein zuläſſig erachtet.<lb/> Die Frau Bürgermeiſterin iſt die junge Gattin des Bürgermeiſters<lb/> Peter van der <hi rendition="#g">Werff,</hi> des tapferen Vertheidigers von Leyden. Der<lb/> Bürgermeiſter lebt in zweiter Ehe, könnte der Vater ſeiner zweiten<lb/> Frau ſein und kommt vor dem Drange der Amtsgeſchäfte und<lb/> hohen Politik nicht zu gemüthlicher Kundgabe ſeines ehelichen<lb/> Glücks. Bei der erſtmaligen Wiederkehr des Hochzeitstags drückt<lb/> er ſeiner Frau nur „einen langen (!) Kuß auf die Stirne‟.<lb/> Der gute Mann will ſeiner Frau alle trüben Sorgen, mit welchen<lb/> er an die Zukunft ſeiner Vaterſtadt denkt, verſtändiger Weiſe<lb/> nach Möglichkeit erſparen, das nimmt die Gattin aber ſehr übel,<lb/> ſie ſchmollt, weint thöricht genug, ſie ſtehe dem Manne bei Er-<lb/> füllung ſeiner Berufspflichten im Wege u. ſ. w. Als der Bürger-<lb/> meiſter von einer gefahrdrohenden Reiſe glücklich zurückkehrt,<lb/> drückt er „die Lippen auf ihre Augen und ihr duftendes Haar‟,<lb/> ſie hatte die Hände feſt um ſeinen Hals geſchlungen. An dem<lb/> Tage, da ſie den Mann ihrer erſten Liebe, den unvermählt ge-<lb/> bliebenen Thüringer Georg von <hi rendition="#g">Dornburg</hi> wiedergeſehen<lb/> und ſich darüber in der rechtzeitigen Heimkehr nach ihrer Woh-<lb/> nung verſäumt hat, „führt ſie zum erſtenmale ſeit ihrer Ver-<lb/> mählung die Hand ihres Mannes an die Lippen‟, worauf der<lb/> Bürgermeiſter ihr mit gewohnter Formalität und vornehmer<lb/> Kühle die Stirne küßte. Der Verſuchung, in die Liebe zu dem<lb/> Junker zurückzufallen, widerſteht die tüchtige Frau, und als es<lb/></p> </body> </text> </TEI> [36 228/0036]
entfernte den Zipfel des Mantels, welcher ſein Haupt bedeckt
hatte, von dem Antlitz, richtete ſich langſam auf und ſagte, ohne
ſeine liegende Stellung aufzugeben, mit äußerſt wohllautender
Stimme ganz ſchlicht und gelaſſen: „Du biſt es, Xanthe?‟ Ja,
ſchlicht und gelaſſen, matt und langweilig reiht ſich Frage an
Frage bis zu der letzten: „O Xanthe, liebe, einzige Xanthe,
willſt du mich oder unſeren Vetter Leonax zum Gatten?‟ Die
Antwort mitzutheilen iſt überflüſſig. Zur Einleitung hatte ja die
Schöne dreimal gehuſtet — um einen Laut zu vernehmen! —
Wir hatten früher immer geglaubt, Ebers male die Geſchlechts-
liebe in der alten Welt grundſätzlich mit matten, gedämpften,
gebrochenen Farben, die Bekanntſchaft mit der „Bürgermeiſterin‟
ergibt aber, daß er dieſe Art Malerei für allein zuläſſig erachtet.
Die Frau Bürgermeiſterin iſt die junge Gattin des Bürgermeiſters
Peter van der Werff, des tapferen Vertheidigers von Leyden. Der
Bürgermeiſter lebt in zweiter Ehe, könnte der Vater ſeiner zweiten
Frau ſein und kommt vor dem Drange der Amtsgeſchäfte und
hohen Politik nicht zu gemüthlicher Kundgabe ſeines ehelichen
Glücks. Bei der erſtmaligen Wiederkehr des Hochzeitstags drückt
er ſeiner Frau nur „einen langen (!) Kuß auf die Stirne‟.
Der gute Mann will ſeiner Frau alle trüben Sorgen, mit welchen
er an die Zukunft ſeiner Vaterſtadt denkt, verſtändiger Weiſe
nach Möglichkeit erſparen, das nimmt die Gattin aber ſehr übel,
ſie ſchmollt, weint thöricht genug, ſie ſtehe dem Manne bei Er-
füllung ſeiner Berufspflichten im Wege u. ſ. w. Als der Bürger-
meiſter von einer gefahrdrohenden Reiſe glücklich zurückkehrt,
drückt er „die Lippen auf ihre Augen und ihr duftendes Haar‟,
ſie hatte die Hände feſt um ſeinen Hals geſchlungen. An dem
Tage, da ſie den Mann ihrer erſten Liebe, den unvermählt ge-
bliebenen Thüringer Georg von Dornburg wiedergeſehen
und ſich darüber in der rechtzeitigen Heimkehr nach ihrer Woh-
nung verſäumt hat, „führt ſie zum erſtenmale ſeit ihrer Ver-
mählung die Hand ihres Mannes an die Lippen‟, worauf der
Bürgermeiſter ihr mit gewohnter Formalität und vornehmer
Kühle die Stirne küßte. Der Verſuchung, in die Liebe zu dem
Junker zurückzufallen, widerſteht die tüchtige Frau, und als es
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