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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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belauscht wähnend vor dem Lehnstuhl stand, auf dem die Ver¬
blichene sich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als
säße die Meisterin noch lebend da und blicke zu ihm empor.
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr
Bild, das an der Wand über dem silbernen Myrthenkranz
hing. Ja, als Thomas wieder einmal leise die Thür ge¬
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock
der Verstorbenen streichelte und einen Kuß auf ihn drückte.

Der Altgeselle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank
und knüpfte oft absichtlich ein Gespräch mit ihm an, um sich
von der Krankheit zu überzeugen. Zu seinem Erstaunen ant¬
wortete der Meister völlig vernünftig, aber er brachte eine
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeselle für beginnenden
Irrsinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerschütterung:
die Aeußerung eines tiefgebeugten Geistes, der sich in sich selbst
verschließt und sein fürchterliches Unglück erst allmälig begreift.

Timpe nahm nur wenige Speisen zu sich, trotzdem der
Lehrling sie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬
geselle sah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten
Tage brachte er in aller Frühe seine Schwester mit. Sie
blieb nun den ganzen Tag über im Hause, kochte für Meister
und Lehrling und brachte ihm die Wirthschaft in Ordnung.
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das so
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten
Thomas und Marie mit ihm am selben Tische essen.

"Aber nicht für Ihr Geld, Meister . . . dann sind wir
damit einverstanden", sagte der Altgeselle kurz und bündig
wie immer.

belauſcht wähnend vor dem Lehnſtuhl ſtand, auf dem die Ver¬
blichene ſich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als
ſäße die Meiſterin noch lebend da und blicke zu ihm empor.
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr
Bild, das an der Wand über dem ſilbernen Myrthenkranz
hing. Ja, als Thomas wieder einmal leiſe die Thür ge¬
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock
der Verſtorbenen ſtreichelte und einen Kuß auf ihn drückte.

Der Altgeſelle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank
und knüpfte oft abſichtlich ein Geſpräch mit ihm an, um ſich
von der Krankheit zu überzeugen. Zu ſeinem Erſtaunen ant¬
wortete der Meiſter völlig vernünftig, aber er brachte eine
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeſelle für beginnenden
Irrſinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerſchütterung:
die Aeußerung eines tiefgebeugten Geiſtes, der ſich in ſich ſelbſt
verſchließt und ſein fürchterliches Unglück erſt allmälig begreift.

Timpe nahm nur wenige Speiſen zu ſich, trotzdem der
Lehrling ſie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬
geſelle ſah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten
Tage brachte er in aller Frühe ſeine Schweſter mit. Sie
blieb nun den ganzen Tag über im Hauſe, kochte für Meiſter
und Lehrling und brachte ihm die Wirthſchaft in Ordnung.
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das ſo
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten
Thomas und Marie mit ihm am ſelben Tiſche eſſen.

„Aber nicht für Ihr Geld, Meiſter . . . dann ſind wir
damit einverſtanden“, ſagte der Altgeſelle kurz und bündig
wie immer.

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[254/0266] belauſcht wähnend vor dem Lehnſtuhl ſtand, auf dem die Ver¬ blichene ſich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als ſäße die Meiſterin noch lebend da und blicke zu ihm empor. Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr Bild, das an der Wand über dem ſilbernen Myrthenkranz hing. Ja, als Thomas wieder einmal leiſe die Thür ge¬ öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock der Verſtorbenen ſtreichelte und einen Kuß auf ihn drückte. Der Altgeſelle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank und knüpfte oft abſichtlich ein Geſpräch mit ihm an, um ſich von der Krankheit zu überzeugen. Zu ſeinem Erſtaunen ant¬ wortete der Meiſter völlig vernünftig, aber er brachte eine Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeſelle für beginnenden Irrſinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerſchütterung: die Aeußerung eines tiefgebeugten Geiſtes, der ſich in ſich ſelbſt verſchließt und ſein fürchterliches Unglück erſt allmälig begreift. Timpe nahm nur wenige Speiſen zu ſich, trotzdem der Lehrling ſie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬ geſelle ſah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten Tage brachte er in aller Frühe ſeine Schweſter mit. Sie blieb nun den ganzen Tag über im Hauſe, kochte für Meiſter und Lehrling und brachte ihm die Wirthſchaft in Ordnung. Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das ſo natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten Thomas und Marie mit ihm am ſelben Tiſche eſſen. „Aber nicht für Ihr Geld, Meiſter . . . dann ſind wir damit einverſtanden“, ſagte der Altgeſelle kurz und bündig wie immer.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/266>, abgerufen am 22.11.2024.