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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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und um die Lampe im Wohnzimmer sieht man seit langer
Zeit wieder die ganze Familie versammelt. Die flackernden
Flammen des Gaslaternen verstärken den unangenehmen Ein¬
druck. Die Schatten werden dunkler, die Wasserpfützen
leuchten greller, die Häuser starren um so schwärzer zum
dunklen Himmel empor. Wie Irrlichter huschen die bunten
Flämmchen der Wagenlaternen über die Straße und wirken
um so unheimlicher, je weniger man die Gefährte erkennen
kann.

Seit frühmorgens war Timpe unterwegs, ohne den hülfs¬
bereiten Menschen gefunden zu haben, der ihm Ersatz für die
gekündigte Hypothek verschaffen würde. Er hatte durch die
ewige Aufregung seine Arbeit bereits so vernachlässigt, daß sie
in der Werkstatt unausgeführt in großen Haufen lag. Noch
niemals war ihm eine ähnliche Gleichgültigkeit gegen sich
selbst, gegen Alles, was das Leben noch zu bieten vermochte,
überkommen, wie in den letzten Tagen. Er kam sich wie ein
Vagabund vor, wie ein alter Landstreicher, der durch die
Straßen zieht, nm für Brot und Nachtlager zu betteln.

Es fing bereits an zu dunkeln. Der Schnee klatschte
bei jedem Schritt gegen seine Füße, der Regendunst hatte
sein langes Haar erweicht, sich in jede Falte seiner Kleidung
gesetzt, so daß die Hand feucht wurde, wenn er sie berührte.
So näherte er sich wieder allmählich seiner Straße. In tiefe
Gedanken versunken, blieb er abwechselnd stehen und blickte
zum Himmel empor. Dann kam der Name "Karoline" wie
ein langer Seufzer unsagbaren Schmerzes über seine Lippen.
Er suchte vergeblich nach einem Ausdruck seiner Wünsche und
Hoffnungen für die Zukunft; alles dessen, was ihn bewegte und
die ewigen Widersprüche in ihm entfachte. Endlich hatte er

und um die Lampe im Wohnzimmer ſieht man ſeit langer
Zeit wieder die ganze Familie verſammelt. Die flackernden
Flammen des Gaslaternen verſtärken den unangenehmen Ein¬
druck. Die Schatten werden dunkler, die Waſſerpfützen
leuchten greller, die Häuſer ſtarren um ſo ſchwärzer zum
dunklen Himmel empor. Wie Irrlichter huſchen die bunten
Flämmchen der Wagenlaternen über die Straße und wirken
um ſo unheimlicher, je weniger man die Gefährte erkennen
kann.

Seit frühmorgens war Timpe unterwegs, ohne den hülfs¬
bereiten Menſchen gefunden zu haben, der ihm Erſatz für die
gekündigte Hypothek verſchaffen würde. Er hatte durch die
ewige Aufregung ſeine Arbeit bereits ſo vernachläſſigt, daß ſie
in der Werkſtatt unausgeführt in großen Haufen lag. Noch
niemals war ihm eine ähnliche Gleichgültigkeit gegen ſich
ſelbſt, gegen Alles, was das Leben noch zu bieten vermochte,
überkommen, wie in den letzten Tagen. Er kam ſich wie ein
Vagabund vor, wie ein alter Landſtreicher, der durch die
Straßen zieht, nm für Brot und Nachtlager zu betteln.

Es fing bereits an zu dunkeln. Der Schnee klatſchte
bei jedem Schritt gegen ſeine Füße, der Regendunſt hatte
ſein langes Haar erweicht, ſich in jede Falte ſeiner Kleidung
geſetzt, ſo daß die Hand feucht wurde, wenn er ſie berührte.
So näherte er ſich wieder allmählich ſeiner Straße. In tiefe
Gedanken verſunken, blieb er abwechſelnd ſtehen und blickte
zum Himmel empor. Dann kam der Name „Karoline“ wie
ein langer Seufzer unſagbaren Schmerzes über ſeine Lippen.
Er ſuchte vergeblich nach einem Ausdruck ſeiner Wünſche und
Hoffnungen für die Zukunft; alles deſſen, was ihn bewegte und
die ewigen Widerſprüche in ihm entfachte. Endlich hatte er

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[280/0292] und um die Lampe im Wohnzimmer ſieht man ſeit langer Zeit wieder die ganze Familie verſammelt. Die flackernden Flammen des Gaslaternen verſtärken den unangenehmen Ein¬ druck. Die Schatten werden dunkler, die Waſſerpfützen leuchten greller, die Häuſer ſtarren um ſo ſchwärzer zum dunklen Himmel empor. Wie Irrlichter huſchen die bunten Flämmchen der Wagenlaternen über die Straße und wirken um ſo unheimlicher, je weniger man die Gefährte erkennen kann. Seit frühmorgens war Timpe unterwegs, ohne den hülfs¬ bereiten Menſchen gefunden zu haben, der ihm Erſatz für die gekündigte Hypothek verſchaffen würde. Er hatte durch die ewige Aufregung ſeine Arbeit bereits ſo vernachläſſigt, daß ſie in der Werkſtatt unausgeführt in großen Haufen lag. Noch niemals war ihm eine ähnliche Gleichgültigkeit gegen ſich ſelbſt, gegen Alles, was das Leben noch zu bieten vermochte, überkommen, wie in den letzten Tagen. Er kam ſich wie ein Vagabund vor, wie ein alter Landſtreicher, der durch die Straßen zieht, nm für Brot und Nachtlager zu betteln. Es fing bereits an zu dunkeln. Der Schnee klatſchte bei jedem Schritt gegen ſeine Füße, der Regendunſt hatte ſein langes Haar erweicht, ſich in jede Falte ſeiner Kleidung geſetzt, ſo daß die Hand feucht wurde, wenn er ſie berührte. So näherte er ſich wieder allmählich ſeiner Straße. In tiefe Gedanken verſunken, blieb er abwechſelnd ſtehen und blickte zum Himmel empor. Dann kam der Name „Karoline“ wie ein langer Seufzer unſagbaren Schmerzes über ſeine Lippen. Er ſuchte vergeblich nach einem Ausdruck ſeiner Wünſche und Hoffnungen für die Zukunft; alles deſſen, was ihn bewegte und die ewigen Widerſprüche in ihm entfachte. Endlich hatte er

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/292>, abgerufen am 22.11.2024.