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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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der sein Licht durch ein einziges großes Fenster vom Garten
her erhielt. Mit Anstrengung schleppte er Betten, Tisch und
Stühle und die halbe Einrichtung einer Küche herunter. Er
beachtete die Kälte der Nacht nicht, nahm keine Rücksicht auf
das Wahnwitzige seines Thuns, nur der eine Gedanke
beseelte ihn, sein Werk zu vollbringen, ehe der Tag zu grauen
anfing.

Es war nahe an sechs Uhr, als er innehielt. Noch einen
Blick wollte er auf die Straße werfen, bevor er sich in sein
freiwilliges Gefängniß vergrub. Er stieg zur Giebelstube hinauf
und öffnete das Fenster. Eisige Luft schlug ihm entgegen und
kühlte sein erhitztes Gesicht. An diesem Februarmorgen bedeckte
leichter Nebelflor die Erde und tauchte das Licht der Laternen
in große Wolken von Dunst. Die Straße hatte sich bereits belebt.
In langen Zügen schritten die Arbeiter der Urban'schen Fabrik
zu, eilig und schweigsam wie finstere Gestalten der Nacht.

Während der Meister hinunterblickte, wurde er ruhiger.
Was erreichte er eigentlich durch seinen Widerstand? Wäre
es nicht besser, mit der Vergangenheit zu brechen und den
Lebenskampf von Neuem aufzunehmen? Ein Ausweg blieb
ihm: unterzugehen in dieser schwarzen Menge, die schon
so viele Handwerksmeister vor ihm verschlungen hatte. Plötzlich
zog er den Kopf zurück. Im Lichte der Laterne sah er
Meister Hüttig daherschreiten, dürr und durchsichtig wie ein
Gespenst. O, er konnte sich noch ganz gut der Zeit entsinnen,
da dieser brave Mann hinter dem Schaufenster seines Ver¬
kaufsgewölbes emsig die Kunden bediente. Vom Laden aus
konnte man direkt in die Werkstatt blicken, wo Drehbank neben
Drehbank stand. Und jetzt .... ein Proletarier, der im
Schweiße seines Angesichts für Weib und Kinder sorgte!

der ſein Licht durch ein einziges großes Fenſter vom Garten
her erhielt. Mit Anſtrengung ſchleppte er Betten, Tiſch und
Stühle und die halbe Einrichtung einer Küche herunter. Er
beachtete die Kälte der Nacht nicht, nahm keine Rückſicht auf
das Wahnwitzige ſeines Thuns, nur der eine Gedanke
beſeelte ihn, ſein Werk zu vollbringen, ehe der Tag zu grauen
anfing.

Es war nahe an ſechs Uhr, als er innehielt. Noch einen
Blick wollte er auf die Straße werfen, bevor er ſich in ſein
freiwilliges Gefängniß vergrub. Er ſtieg zur Giebelſtube hinauf
und öffnete das Fenſter. Eiſige Luft ſchlug ihm entgegen und
kühlte ſein erhitztes Geſicht. An dieſem Februarmorgen bedeckte
leichter Nebelflor die Erde und tauchte das Licht der Laternen
in große Wolken von Dunſt. Die Straße hatte ſich bereits belebt.
In langen Zügen ſchritten die Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik
zu, eilig und ſchweigſam wie finſtere Geſtalten der Nacht.

Während der Meiſter hinunterblickte, wurde er ruhiger.
Was erreichte er eigentlich durch ſeinen Widerſtand? Wäre
es nicht beſſer, mit der Vergangenheit zu brechen und den
Lebenskampf von Neuem aufzunehmen? Ein Ausweg blieb
ihm: unterzugehen in dieſer ſchwarzen Menge, die ſchon
ſo viele Handwerksmeiſter vor ihm verſchlungen hatte. Plötzlich
zog er den Kopf zurück. Im Lichte der Laterne ſah er
Meiſter Hüttig daherſchreiten, dürr und durchſichtig wie ein
Geſpenſt. O, er konnte ſich noch ganz gut der Zeit entſinnen,
da dieſer brave Mann hinter dem Schaufenſter ſeines Ver¬
kaufsgewölbes emſig die Kunden bediente. Vom Laden aus
konnte man direkt in die Werkſtatt blicken, wo Drehbank neben
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[322/0334] der ſein Licht durch ein einziges großes Fenſter vom Garten her erhielt. Mit Anſtrengung ſchleppte er Betten, Tiſch und Stühle und die halbe Einrichtung einer Küche herunter. Er beachtete die Kälte der Nacht nicht, nahm keine Rückſicht auf das Wahnwitzige ſeines Thuns, nur der eine Gedanke beſeelte ihn, ſein Werk zu vollbringen, ehe der Tag zu grauen anfing. Es war nahe an ſechs Uhr, als er innehielt. Noch einen Blick wollte er auf die Straße werfen, bevor er ſich in ſein freiwilliges Gefängniß vergrub. Er ſtieg zur Giebelſtube hinauf und öffnete das Fenſter. Eiſige Luft ſchlug ihm entgegen und kühlte ſein erhitztes Geſicht. An dieſem Februarmorgen bedeckte leichter Nebelflor die Erde und tauchte das Licht der Laternen in große Wolken von Dunſt. Die Straße hatte ſich bereits belebt. In langen Zügen ſchritten die Arbeiter der Urban'ſchen Fabrik zu, eilig und ſchweigſam wie finſtere Geſtalten der Nacht. Während der Meiſter hinunterblickte, wurde er ruhiger. Was erreichte er eigentlich durch ſeinen Widerſtand? Wäre es nicht beſſer, mit der Vergangenheit zu brechen und den Lebenskampf von Neuem aufzunehmen? Ein Ausweg blieb ihm: unterzugehen in dieſer ſchwarzen Menge, die ſchon ſo viele Handwerksmeiſter vor ihm verſchlungen hatte. Plötzlich zog er den Kopf zurück. Im Lichte der Laterne ſah er Meiſter Hüttig daherſchreiten, dürr und durchſichtig wie ein Geſpenſt. O, er konnte ſich noch ganz gut der Zeit entſinnen, da dieſer brave Mann hinter dem Schaufenſter ſeines Ver¬ kaufsgewölbes emſig die Kunden bediente. Vom Laden aus konnte man direkt in die Werkſtatt blicken, wo Drehbank neben Drehbank ſtand. Und jetzt .... ein Proletarier, der im Schweiße ſeines Angeſichts für Weib und Kinder ſorgte!

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/334>, abgerufen am 24.11.2024.