Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

artig sein und sich von ihm durch den Garten tragen lassen.
Und nun stand dieses kleine, zierliche Ding von damals als
furchtlose, elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn
mit "Herr Timpe" an. Was die Jahre und die Entfremdung
doch Alles zuwege bringen!

Fräulein Emma hatte sechs Jahre bei einer Tante auf
dem Lande zugebracht, da ihre Mutter von jeher für ihren
schwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für
nöthig fand, dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswechsel
nachzugeben. Im vergangenen Winter war das Mädchen
wieder nach Berlin zurückgekehrt, um von nun an inmitten
der Familie zu verweilen. Die ganze Nachbarschaft
hatte ihre Größe angestaunt und sich über die ländlichen
Manieren gewundert, die sie sich angeeignet hatte. Ihre beiden
älteren Schwestern aber fanden alle Augenblicke Veranlassung,
sich über sie zu ärgern und ihren trockenen Humor, mit dem
sie sich über Alles lustig machte, und mehr noch ihre Unge¬
nirtheit im Gespräche zu bemängeln und unausstehlich zu
finden. Binnen wenigen Monaten war sie zum enfant ter¬
rible
geworden, das schließlich anfing, eine gewisse Ausnahme¬
stellung im Hause einzunehmen. Therese Ramm allein er¬
klärte sie für entzückend, denn sie fand mannigfache Be¬
rührungspunkte mit ihrer Freundin, da sie als einziges Mädchen
unter fünf Brüdern sehr zu leiden hatte; außerdem fühlte
sie sich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit
Emma verwandt, zumal dieselbe trotz ihrer Fehler eine große
Herzensgüte besaß, die in der Schlichtheit, mit der sie zu
Tage trat, doppelt für sie einnahm.

Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt,
als sie erklärlicherweise von denselben alten Erinnerungen heim¬

4*

artig ſein und ſich von ihm durch den Garten tragen laſſen.
Und nun ſtand dieſes kleine, zierliche Ding von damals als
furchtloſe, elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn
mit „Herr Timpe“ an. Was die Jahre und die Entfremdung
doch Alles zuwege bringen!

Fräulein Emma hatte ſechs Jahre bei einer Tante auf
dem Lande zugebracht, da ihre Mutter von jeher für ihren
ſchwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für
nöthig fand, dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswechſel
nachzugeben. Im vergangenen Winter war das Mädchen
wieder nach Berlin zurückgekehrt, um von nun an inmitten
der Familie zu verweilen. Die ganze Nachbarſchaft
hatte ihre Größe angeſtaunt und ſich über die ländlichen
Manieren gewundert, die ſie ſich angeeignet hatte. Ihre beiden
älteren Schweſtern aber fanden alle Augenblicke Veranlaſſung,
ſich über ſie zu ärgern und ihren trockenen Humor, mit dem
ſie ſich über Alles luſtig machte, und mehr noch ihre Unge¬
nirtheit im Geſpräche zu bemängeln und unausſtehlich zu
finden. Binnen wenigen Monaten war ſie zum enfant ter¬
rible
geworden, das ſchließlich anfing, eine gewiſſe Ausnahme¬
ſtellung im Hauſe einzunehmen. Thereſe Ramm allein er¬
klärte ſie für entzückend, denn ſie fand mannigfache Be¬
rührungspunkte mit ihrer Freundin, da ſie als einziges Mädchen
unter fünf Brüdern ſehr zu leiden hatte; außerdem fühlte
ſie ſich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit
Emma verwandt, zumal dieſelbe trotz ihrer Fehler eine große
Herzensgüte beſaß, die in der Schlichtheit, mit der ſie zu
Tage trat, doppelt für ſie einnahm.

Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt,
als ſie erklärlicherweiſe von denſelben alten Erinnerungen heim¬

4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0063" n="51"/>
artig &#x017F;ein und &#x017F;ich von ihm durch den Garten tragen la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Und nun &#x017F;tand die&#x017F;es kleine, zierliche Ding von damals als<lb/>
furchtlo&#x017F;e, elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn<lb/>
mit &#x201E;Herr Timpe&#x201C; an. Was die Jahre und die Entfremdung<lb/>
doch Alles zuwege bringen!</p><lb/>
        <p>Fräulein Emma hatte &#x017F;echs Jahre bei einer Tante auf<lb/>
dem Lande zugebracht, da ihre Mutter von jeher für ihren<lb/>
&#x017F;chwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für<lb/>
nöthig fand, dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswech&#x017F;el<lb/>
nachzugeben. Im vergangenen Winter war das Mädchen<lb/>
wieder nach Berlin zurückgekehrt, um von nun an inmitten<lb/>
der Familie zu verweilen. Die ganze Nachbar&#x017F;chaft<lb/>
hatte ihre Größe ange&#x017F;taunt und &#x017F;ich über die ländlichen<lb/>
Manieren gewundert, die &#x017F;ie &#x017F;ich angeeignet hatte. Ihre beiden<lb/>
älteren Schwe&#x017F;tern aber fanden alle Augenblicke Veranla&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
&#x017F;ich über &#x017F;ie zu ärgern und ihren trockenen Humor, mit dem<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich über Alles lu&#x017F;tig machte, und mehr noch ihre Unge¬<lb/>
nirtheit im Ge&#x017F;präche zu bemängeln und unaus&#x017F;tehlich zu<lb/>
finden. Binnen wenigen Monaten war &#x017F;ie zum <hi rendition="#aq">enfant ter¬<lb/>
rible</hi> geworden, das &#x017F;chließlich anfing, eine gewi&#x017F;&#x017F;e Ausnahme¬<lb/>
&#x017F;tellung im Hau&#x017F;e einzunehmen. There&#x017F;e Ramm allein er¬<lb/>
klärte &#x017F;ie für entzückend, denn &#x017F;ie fand mannigfache Be¬<lb/>
rührungspunkte mit ihrer Freundin, da &#x017F;ie als einziges Mädchen<lb/>
unter fünf Brüdern &#x017F;ehr zu leiden hatte; außerdem fühlte<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit<lb/>
Emma verwandt, zumal die&#x017F;elbe trotz ihrer Fehler eine große<lb/>
Herzensgüte be&#x017F;aß, die in der Schlichtheit, mit der &#x017F;ie zu<lb/>
Tage trat, doppelt für &#x017F;ie einnahm.</p><lb/>
        <p>Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt,<lb/>
als &#x017F;ie erklärlicherwei&#x017F;e von den&#x017F;elben alten Erinnerungen heim¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0063] artig ſein und ſich von ihm durch den Garten tragen laſſen. Und nun ſtand dieſes kleine, zierliche Ding von damals als furchtloſe, elegant gekleidete Dame vor ihm und redete ihn mit „Herr Timpe“ an. Was die Jahre und die Entfremdung doch Alles zuwege bringen! Fräulein Emma hatte ſechs Jahre bei einer Tante auf dem Lande zugebracht, da ihre Mutter von jeher für ihren ſchwächlichen Körper gefürchtet hatte und es eines Tages für nöthig fand, dem Verlangen des Arztes nach einem Ortswechſel nachzugeben. Im vergangenen Winter war das Mädchen wieder nach Berlin zurückgekehrt, um von nun an inmitten der Familie zu verweilen. Die ganze Nachbarſchaft hatte ihre Größe angeſtaunt und ſich über die ländlichen Manieren gewundert, die ſie ſich angeeignet hatte. Ihre beiden älteren Schweſtern aber fanden alle Augenblicke Veranlaſſung, ſich über ſie zu ärgern und ihren trockenen Humor, mit dem ſie ſich über Alles luſtig machte, und mehr noch ihre Unge¬ nirtheit im Geſpräche zu bemängeln und unausſtehlich zu finden. Binnen wenigen Monaten war ſie zum enfant ter¬ rible geworden, das ſchließlich anfing, eine gewiſſe Ausnahme¬ ſtellung im Hauſe einzunehmen. Thereſe Ramm allein er¬ klärte ſie für entzückend, denn ſie fand mannigfache Be¬ rührungspunkte mit ihrer Freundin, da ſie als einziges Mädchen unter fünf Brüdern ſehr zu leiden hatte; außerdem fühlte ſie ſich in ihrem ganzen Denken und Trachten innig mit Emma verwandt, zumal dieſelbe trotz ihrer Fehler eine große Herzensgüte beſaß, die in der Schlichtheit, mit der ſie zu Tage trat, doppelt für ſie einnahm. Fräulein Kirchberg hatte kaum Franz erblickt und begrüßt, als ſie erklärlicherweiſe von denſelben alten Erinnerungen heim¬ 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/63
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/63>, abgerufen am 21.11.2024.