Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

ihnen dar: der Kopf war auf die Brust gesunken, der Athem
ging stoßweise und röchelnd, Hände und Beine bewegten sich
wie im Fieber, die ganze Gestalt schien kleiner, zusammen¬
gedrückter geworden zu sein. Und dieser gebrechliche, in seiner
Hülflosigkeit einem Kinde gleichende Mann sollte das Haus
verlassen? O nein, nein . . . Johannes Timpe fand diesen
Gedanken des Großvaters fürchterlich. Von nun an sollten
alle Wünsche des Atten erfüllt werden.

Während einiger Minuten vernahm man nur die Athem¬
züge des Greises. Plötzlich zuckte sein Mund . . . Und der ganze
Widerstreit der Gefühle, die diesen merkwürdigen Menschen im
Augenblick durchtobten, kam in den Worten zum Ausbruch: "Mein
einziger Enkel!" Langsam rollten große Thränen über seine
hageren Wangen. Es war zum ersten Male, daß er hindurch¬
blicken ließ, wie unter der eisernen Strenge, die er Franzen gegen¬
über an den Tag legte, eine tiefe Liebe schlummerte.

Meister Timpe war tief bewegt, und Frau Karoline
nicht minder. Sie überboten sich gegenseitig in Zärtlichkeiten
gegen den Alten, streichelten seine welken Hände und ver¬
suchten ihn zu besänftigen.

"Rege dich nicht auf, Vater! Ich verspreche Dir, es
soll eine Aenderung eintreten", sagte Johannes und zog den
Kopf des Alten an sich.

Diese Aenderung bestand darin, daß Johannes seinem
Sohne das Taschengeld entzog und ihm nur den kleinen
Monatsgehalt beließ, den er von Urban bekam. Eine ganze
Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hause, aber er
sprach während dieser Zeit kein Wort und that so, als existire
für ihn Niemand im Hause. Das vermochte sein Vater nicht
zu ertragen.

ihnen dar: der Kopf war auf die Bruſt geſunken, der Athem
ging ſtoßweiſe und röchelnd, Hände und Beine bewegten ſich
wie im Fieber, die ganze Geſtalt ſchien kleiner, zuſammen¬
gedrückter geworden zu ſein. Und dieſer gebrechliche, in ſeiner
Hülfloſigkeit einem Kinde gleichende Mann ſollte das Haus
verlaſſen? O nein, nein . . . Johannes Timpe fand dieſen
Gedanken des Großvaters fürchterlich. Von nun an ſollten
alle Wünſche des Atten erfüllt werden.

Während einiger Minuten vernahm man nur die Athem¬
züge des Greiſes. Plötzlich zuckte ſein Mund . . . Und der ganze
Widerſtreit der Gefühle, die dieſen merkwürdigen Menſchen im
Augenblick durchtobten, kam in den Worten zum Ausbruch: „Mein
einziger Enkel!“ Langſam rollten große Thränen über ſeine
hageren Wangen. Es war zum erſten Male, daß er hindurch¬
blicken ließ, wie unter der eiſernen Strenge, die er Franzen gegen¬
über an den Tag legte, eine tiefe Liebe ſchlummerte.

Meiſter Timpe war tief bewegt, und Frau Karoline
nicht minder. Sie überboten ſich gegenſeitig in Zärtlichkeiten
gegen den Alten, ſtreichelten ſeine welken Hände und ver¬
ſuchten ihn zu beſänftigen.

„Rege dich nicht auf, Vater! Ich verſpreche Dir, es
ſoll eine Aenderung eintreten“, ſagte Johannes und zog den
Kopf des Alten an ſich.

Dieſe Aenderung beſtand darin, daß Johannes ſeinem
Sohne das Taſchengeld entzog und ihm nur den kleinen
Monatsgehalt beließ, den er von Urban bekam. Eine ganze
Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hauſe, aber er
ſprach während dieſer Zeit kein Wort und that ſo, als exiſtire
für ihn Niemand im Hauſe. Das vermochte ſein Vater nicht
zu ertragen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0090" n="78"/>
ihnen dar: der Kopf war auf die Bru&#x017F;t ge&#x017F;unken, der Athem<lb/>
ging &#x017F;toßwei&#x017F;e und röchelnd, Hände und Beine bewegten &#x017F;ich<lb/>
wie im Fieber, die ganze Ge&#x017F;talt &#x017F;chien kleiner, zu&#x017F;ammen¬<lb/>
gedrückter geworden zu &#x017F;ein. Und die&#x017F;er gebrechliche, in &#x017F;einer<lb/>
Hülflo&#x017F;igkeit einem Kinde gleichende Mann &#x017F;ollte das <hi rendition="#g">Haus</hi><lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en? O nein, nein . . . Johannes Timpe fand die&#x017F;en<lb/>
Gedanken des Großvaters fürchterlich. Von nun an &#x017F;ollten<lb/>
alle Wün&#x017F;che des Atten erfüllt werden.</p><lb/>
        <p>Während einiger Minuten vernahm man nur die Athem¬<lb/>
züge des Grei&#x017F;es. Plötzlich zuckte &#x017F;ein Mund . . . Und der ganze<lb/>
Wider&#x017F;treit der Gefühle, die die&#x017F;en merkwürdigen Men&#x017F;chen im<lb/>
Augenblick durchtobten, kam in den Worten zum Ausbruch: &#x201E;Mein<lb/>
einziger Enkel!&#x201C; Lang&#x017F;am rollten große Thränen über &#x017F;eine<lb/>
hageren Wangen. Es war zum er&#x017F;ten Male, daß er hindurch¬<lb/>
blicken ließ, wie unter der ei&#x017F;ernen Strenge, die er Franzen gegen¬<lb/>
über an den Tag legte, eine tiefe Liebe &#x017F;chlummerte.</p><lb/>
        <p>Mei&#x017F;ter Timpe war tief bewegt, und Frau Karoline<lb/>
nicht minder. Sie überboten &#x017F;ich gegen&#x017F;eitig in Zärtlichkeiten<lb/>
gegen den Alten, &#x017F;treichelten &#x017F;eine welken Hände und ver¬<lb/>
&#x017F;uchten ihn zu be&#x017F;änftigen.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Rege dich nicht auf, Vater! Ich ver&#x017F;preche Dir, es<lb/>
&#x017F;oll eine Aenderung eintreten&#x201C;, &#x017F;agte Johannes und zog den<lb/>
Kopf des Alten an &#x017F;ich.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Aenderung be&#x017F;tand darin, daß Johannes &#x017F;einem<lb/>
Sohne das Ta&#x017F;chengeld entzog und ihm nur den kleinen<lb/>
Monatsgehalt beließ, den er von Urban bekam. Eine ganze<lb/>
Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hau&#x017F;e, aber er<lb/>
&#x017F;prach während die&#x017F;er Zeit kein Wort und that &#x017F;o, als exi&#x017F;tire<lb/>
für ihn Niemand im Hau&#x017F;e. Das vermochte &#x017F;ein Vater nicht<lb/>
zu ertragen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0090] ihnen dar: der Kopf war auf die Bruſt geſunken, der Athem ging ſtoßweiſe und röchelnd, Hände und Beine bewegten ſich wie im Fieber, die ganze Geſtalt ſchien kleiner, zuſammen¬ gedrückter geworden zu ſein. Und dieſer gebrechliche, in ſeiner Hülfloſigkeit einem Kinde gleichende Mann ſollte das Haus verlaſſen? O nein, nein . . . Johannes Timpe fand dieſen Gedanken des Großvaters fürchterlich. Von nun an ſollten alle Wünſche des Atten erfüllt werden. Während einiger Minuten vernahm man nur die Athem¬ züge des Greiſes. Plötzlich zuckte ſein Mund . . . Und der ganze Widerſtreit der Gefühle, die dieſen merkwürdigen Menſchen im Augenblick durchtobten, kam in den Worten zum Ausbruch: „Mein einziger Enkel!“ Langſam rollten große Thränen über ſeine hageren Wangen. Es war zum erſten Male, daß er hindurch¬ blicken ließ, wie unter der eiſernen Strenge, die er Franzen gegen¬ über an den Tag legte, eine tiefe Liebe ſchlummerte. Meiſter Timpe war tief bewegt, und Frau Karoline nicht minder. Sie überboten ſich gegenſeitig in Zärtlichkeiten gegen den Alten, ſtreichelten ſeine welken Hände und ver¬ ſuchten ihn zu beſänftigen. „Rege dich nicht auf, Vater! Ich verſpreche Dir, es ſoll eine Aenderung eintreten“, ſagte Johannes und zog den Kopf des Alten an ſich. Dieſe Aenderung beſtand darin, daß Johannes ſeinem Sohne das Taſchengeld entzog und ihm nur den kleinen Monatsgehalt beließ, den er von Urban bekam. Eine ganze Woche hindurch blieb Franz des Abends zu Hauſe, aber er ſprach während dieſer Zeit kein Wort und that ſo, als exiſtire für ihn Niemand im Hauſe. Das vermochte ſein Vater nicht zu ertragen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/90
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/90>, abgerufen am 21.11.2024.