Angst, er springt auf, rennt was er kann aus dem Bereich des Or¬ chesters -- und zu glücklich, wenn nicht der Nachklang noch fortfährt, ihm seine innere Stimme zu verwirren! Das ungefähr war mein poetischer Erstlingszustand. Ich machte eiligst eine Skizze von meiner Melodie, warf sie in Cotta's Briefschalter und rannte auf und davon nach Amerika. In der Stille des Hinterwalds will ich sehen, ob ich die Skizze ausführe. -- Moorfeld fuhr fort: Ich sagte zuvor: unsre ganze Poesie drückte nicht aus, was sie sollte und wollte: das befrem¬ dete Sie. Ich bin Ihnen, wie es scheint, eine Erklärung darüber schuldig?
Es interessirt mich, sie zu hören, antwortete Benthal.
Ich meine es so, sagte Moorfeld: die ganze Literaturgeschichte zerfällt mir in zwei Perioden; die eine zähle ich von Homer bis Racine, die zweite von Racine bis in unbekannte Zeiten. Diese Pe¬ rioden mögen Ihnen wunderlich dünken; in der ersten stehen z. B. die großen Gegensätze von antik und romantisch, christlich und heidnisch unberücksichtigt neben einander, -- aber ich finde ein Merkmal der Gleichartigkeit für sie: den Ausdruck des nationalen Inhalts. Homer singt seine Griechen, Cervantes seine Spanier, Camoens seine Portu¬ gisen, Shakespear seine Engländer, bis herauf zu Racine, welcher seine Franzosen singt. Das ist das einheitliche Moment dieser Pe¬ riode -- die Poesie der Nationalität. Nach Racine folgt eine andere Periode -- die Poesie der Individualität. Recht schla¬ gend für diese Eintheilung mag ich zwei Engländer nennen -- Shakes¬ peare und Byron. Was wäre Shakespeare außer England, was Byron in England geworden? Nichts. Jener hatte die Nationalität, dieser die Individualität zu singen. Ihre Poesie ist in der Wurzel ver¬ schiedener, als die von Virgil und Tasso. Sie repräsentiren die alte und neue Zeit meines Begriffes. -- In Deutschland, wie billig für deutsche Verhältnisse, hatten wir keine große Nationalitäts-Poesie; desto ungestümer brach die Individualitäts-Periode an: -- das war die Sturm- und Drang-Periode. Man hat von einem Abschluß dieser Periode durch Schiller und Goethe gesprochen. Aber Sie sehen wohl, wie lächerlich das ist. Haben wir denn bis auf diese heutige Stunde schon einen andern Inhalt gewonnen, als den der Sturm- und Drang- Periode -- unser armes drangvolles Ich? Oder ist dieses Ich so
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Angſt, er ſpringt auf, rennt was er kann aus dem Bereich des Or¬ cheſters — und zu glücklich, wenn nicht der Nachklang noch fortfährt, ihm ſeine innere Stimme zu verwirren! Das ungefähr war mein poetiſcher Erſtlingszuſtand. Ich machte eiligſt eine Skizze von meiner Melodie, warf ſie in Cotta's Briefſchalter und rannte auf und davon nach Amerika. In der Stille des Hinterwalds will ich ſehen, ob ich die Skizze ausführe. — Moorfeld fuhr fort: Ich ſagte zuvor: unſre ganze Poeſie drückte nicht aus, was ſie ſollte und wollte: das befrem¬ dete Sie. Ich bin Ihnen, wie es ſcheint, eine Erklärung darüber ſchuldig?
Es intereſſirt mich, ſie zu hören, antwortete Benthal.
Ich meine es ſo, ſagte Moorfeld: die ganze Literaturgeſchichte zerfällt mir in zwei Perioden; die eine zähle ich von Homer bis Racine, die zweite von Racine bis in unbekannte Zeiten. Dieſe Pe¬ rioden mögen Ihnen wunderlich dünken; in der erſten ſtehen z. B. die großen Gegenſätze von antik und romantiſch, chriſtlich und heidniſch unberückſichtigt neben einander, — aber ich finde ein Merkmal der Gleichartigkeit für ſie: den Ausdruck des nationalen Inhalts. Homer ſingt ſeine Griechen, Cervantes ſeine Spanier, Camoens ſeine Portu¬ giſen, Shakespear ſeine Engländer, bis herauf zu Racine, welcher ſeine Franzoſen ſingt. Das iſt das einheitliche Moment dieſer Pe¬ riode — die Poeſie der Nationalität. Nach Racine folgt eine andere Periode — die Poeſie der Individualität. Recht ſchla¬ gend für dieſe Eintheilung mag ich zwei Engländer nennen — Shakes¬ peare und Byron. Was wäre Shakespeare außer England, was Byron in England geworden? Nichts. Jener hatte die Nationalität, dieſer die Individualität zu ſingen. Ihre Poeſie iſt in der Wurzel ver¬ ſchiedener, als die von Virgil und Taſſo. Sie repräſentiren die alte und neue Zeit meines Begriffes. — In Deutſchland, wie billig für deutſche Verhältniſſe, hatten wir keine große Nationalitäts-Poeſie; deſto ungeſtümer brach die Individualitäts-Periode an: — das war die Sturm- und Drang-Periode. Man hat von einem Abſchluß dieſer Periode durch Schiller und Goethe geſprochen. Aber Sie ſehen wohl, wie lächerlich das iſt. Haben wir denn bis auf dieſe heutige Stunde ſchon einen andern Inhalt gewonnen, als den der Sturm- und Drang- Periode — unſer armes drangvolles Ich? Oder iſt dieſes Ich ſo
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Angſt, er ſpringt auf, rennt was er kann aus dem Bereich des Or¬
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ihm ſeine innere Stimme zu verwirren! Das ungefähr war mein
poetiſcher Erſtlingszuſtand. Ich machte eiligſt eine Skizze von meiner
Melodie, warf ſie in Cotta's Briefſchalter und rannte auf und davon
nach Amerika. In der Stille des Hinterwalds will ich ſehen, ob ich
die Skizze ausführe. — Moorfeld fuhr fort: Ich ſagte zuvor: unſre
ganze Poeſie drückte nicht aus, was ſie ſollte und wollte: das befrem¬
dete Sie. Ich bin Ihnen, wie es ſcheint, eine Erklärung darüber
ſchuldig?
Es intereſſirt mich, ſie zu hören, antwortete Benthal.
Ich meine es ſo, ſagte Moorfeld: die ganze Literaturgeſchichte
zerfällt mir in zwei Perioden; die eine zähle ich von Homer bis
Racine, die zweite von Racine bis in unbekannte Zeiten. Dieſe Pe¬
rioden mögen Ihnen wunderlich dünken; in der erſten ſtehen z. B. die
großen Gegenſätze von antik und romantiſch, chriſtlich und heidniſch
unberückſichtigt neben einander, — aber ich finde ein Merkmal der
Gleichartigkeit für ſie: den Ausdruck des nationalen Inhalts. Homer
ſingt ſeine Griechen, Cervantes ſeine Spanier, Camoens ſeine Portu¬
giſen, Shakespear ſeine Engländer, bis herauf zu Racine, welcher
ſeine Franzoſen ſingt. Das iſt das einheitliche Moment dieſer Pe¬
riode — die Poeſie der Nationalität. Nach Racine folgt eine
andere Periode — die Poeſie der Individualität. Recht ſchla¬
gend für dieſe Eintheilung mag ich zwei Engländer nennen — Shakes¬
peare und Byron. Was wäre Shakespeare außer England, was Byron
in England geworden? Nichts. Jener hatte die Nationalität, dieſer
die Individualität zu ſingen. Ihre Poeſie iſt in der Wurzel ver¬
ſchiedener, als die von Virgil und Taſſo. Sie repräſentiren die alte
und neue Zeit meines Begriffes. — In Deutſchland, wie billig für
deutſche Verhältniſſe, hatten wir keine große Nationalitäts-Poeſie; deſto
ungeſtümer brach die Individualitäts-Periode an: — das war die
Sturm- und Drang-Periode. Man hat von einem Abſchluß dieſer
Periode durch Schiller und Goethe geſprochen. Aber Sie ſehen wohl,
wie lächerlich das iſt. Haben wir denn bis auf dieſe heutige Stunde
ſchon einen andern Inhalt gewonnen, als den der Sturm- und Drang-
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/165>, abgerufen am 24.11.2024.
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