süßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen sie auf und unter, oder sie fanden im nächsten Schöppenstedt der Neuheit höchstens so viel, daß der Kirchthurm rechts stand, statt links, und daß der Mühlbach nicht Schleie hatte, sondern Gründlinge. Das Deutschland, in welchem Werther's Pistolenschuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, -- und das Deutschland von heute sind doch verschiedene Weltordnungen. Es lehrt uns, daß der Unterschied von Ideal und Leben kein stehender ist, sondern ein wandelbarer. Wir sind dem Ideale näher gekommen. Das ist eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortschritt seit Schiller's und Goethe's Jugendtagen. Darum -- und nicht weil sie griechisch ge¬ logen haben, -- sind uns ihre Jugendexcesse nicht mehr so leichthin erlaubt. Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann dem Ideale auf Erden näher kommen. Diese Wahrheit zeichnet den Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern. Der Poet wird künftig Tourist sein. Er sucht das Ideal auf Erden, oder vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh er sie verdammt und zum Recht der Verzweiflung greift. -- Byron ging nach Grie¬ chenland, ich nach Amerika. Er besuchte ein absterbendes Volk, ich ein aufblühendes. Ich glaube den bessern Weg gewählt zu haben. Mag der große glänzende Lord ein beneidenswertheres Aufsehen erregen als ich, der kleine ungarische nemes-ember; eins habe ich vor ihm voraus: ein tieferes Gewissen. Es ist mir nicht um eine vorüber¬ gehende Emotion, um eine nationale Rage zu thun, die nach dem Friedensschluß zusammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie die Menschheit ihre Freiheit erkämpft, sondern wie sie ihre Freiheit täglich, stündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht -- das muß mir die Menschheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach Amerika. Hier sind die größten Maßstäbe, die weitesten Perspectiven, hier ist das Leben eine Wahrheit, und die Todten werden alle be¬ graben, nicht blos theilweise, wie in Europa. Hier ist die Werkstätte des Ideals. Soll ich unsern Rationalisten glauben, daß die Mensch¬ heit die Gottheit ist -- hier mußte sich's zeigen, wo mit jeder Erfin¬ dung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird; soll ich unsern Liberalen glauben, daß der Vernunftstaat im allge¬ meinen Stimmrecht liegt, und die geschichtliche Gewohnheit ein Fluch ist -- hier mußt' ich's erfahren, wo ich Gesetze sehe, die der Millionär
ſüßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen ſie auf und unter, oder ſie fanden im nächſten Schöppenſtedt der Neuheit höchſtens ſo viel, daß der Kirchthurm rechts ſtand, ſtatt links, und daß der Mühlbach nicht Schleie hatte, ſondern Gründlinge. Das Deutſchland, in welchem Werther's Piſtolenſchuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, — und das Deutſchland von heute ſind doch verſchiedene Weltordnungen. Es lehrt uns, daß der Unterſchied von Ideal und Leben kein ſtehender iſt, ſondern ein wandelbarer. Wir ſind dem Ideale näher gekommen. Das iſt eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortſchritt ſeit Schiller's und Goethe's Jugendtagen. Darum — und nicht weil ſie griechiſch ge¬ logen haben, — ſind uns ihre Jugendexceſſe nicht mehr ſo leichthin erlaubt. Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann dem Ideale auf Erden näher kommen. Dieſe Wahrheit zeichnet den Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern. Der Poet wird künftig Touriſt ſein. Er ſucht das Ideal auf Erden, oder vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh er ſie verdammt und zum Recht der Verzweiflung greift. — Byron ging nach Grie¬ chenland, ich nach Amerika. Er beſuchte ein abſterbendes Volk, ich ein aufblühendes. Ich glaube den beſſern Weg gewählt zu haben. Mag der große glänzende Lord ein beneidenswertheres Aufſehen erregen als ich, der kleine ungariſche nemes-ember; eins habe ich vor ihm voraus: ein tieferes Gewiſſen. Es iſt mir nicht um eine vorüber¬ gehende Emotion, um eine nationale Rage zu thun, die nach dem Friedensſchluß zuſammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie die Menſchheit ihre Freiheit erkämpft, ſondern wie ſie ihre Freiheit täglich, ſtündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht — das muß mir die Menſchheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach Amerika. Hier ſind die größten Maßſtäbe, die weiteſten Perſpectiven, hier iſt das Leben eine Wahrheit, und die Todten werden alle be¬ graben, nicht blos theilweiſe, wie in Europa. Hier iſt die Werkſtätte des Ideals. Soll ich unſern Rationaliſten glauben, daß die Menſch¬ heit die Gottheit iſt — hier mußte ſich's zeigen, wo mit jeder Erfin¬ dung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird; ſoll ich unſern Liberalen glauben, daß der Vernunftſtaat im allge¬ meinen Stimmrecht liegt, und die geſchichtliche Gewohnheit ein Fluch iſt — hier mußt' ich's erfahren, wo ich Geſetze ſehe, die der Millionär
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0168"n="150"/>ſüßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen ſie auf und unter, oder ſie<lb/>
fanden im nächſten Schöppenſtedt der Neuheit höchſtens ſo viel, daß<lb/>
der Kirchthurm rechts ſtand, ſtatt links, und daß der Mühlbach nicht<lb/>
Schleie hatte, ſondern Gründlinge. Das Deutſchland, in welchem<lb/>
Werther's Piſtolenſchuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, — und<lb/>
das Deutſchland von heute ſind doch verſchiedene Weltordnungen. Es<lb/>
lehrt uns, daß der Unterſchied von Ideal und Leben kein ſtehender<lb/>
iſt, ſondern ein wandelbarer. Wir ſind dem Ideale näher gekommen.<lb/>
Das iſt eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortſchritt ſeit Schiller's<lb/>
und Goethe's Jugendtagen. <hirendition="#g">Darum</hi>— und nicht weil ſie griechiſch ge¬<lb/>
logen haben, —ſind uns ihre Jugendexceſſe nicht mehr ſo leichthin erlaubt.<lb/>
Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann<lb/>
dem Ideale auf <hirendition="#g">Erden</hi> näher kommen. Dieſe Wahrheit zeichnet den<lb/>
Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern.<lb/>
Der Poet wird künftig Touriſt ſein. Er ſucht das Ideal auf Erden, oder<lb/>
vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh er ſie verdammt<lb/>
und zum Recht der Verzweiflung greift. — Byron ging nach Grie¬<lb/>
chenland, ich nach Amerika. Er beſuchte ein abſterbendes Volk, ich<lb/>
ein aufblühendes. Ich glaube den beſſern Weg gewählt zu haben.<lb/>
Mag der große glänzende Lord ein beneidenswertheres Aufſehen erregen<lb/>
als ich, der kleine ungariſche <hirendition="#aq">nemes</hi>-<hirendition="#aq">ember</hi>; eins habe ich vor ihm<lb/>
voraus: ein tieferes Gewiſſen. Es iſt mir nicht um eine vorüber¬<lb/>
gehende Emotion, um eine nationale Rage zu thun, die nach dem<lb/>
Friedensſchluß zuſammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie<lb/>
die Menſchheit ihre Freiheit erkämpft, ſondern wie ſie ihre Freiheit<lb/>
täglich, ſtündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht — das muß<lb/>
mir die Menſchheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach<lb/>
Amerika. Hier ſind die größten Maßſtäbe, die weiteſten Perſpectiven,<lb/>
hier iſt das Leben eine Wahrheit, und die Todten werden alle be¬<lb/>
graben, nicht blos theilweiſe, wie in Europa. Hier iſt die Werkſtätte<lb/>
des Ideals. Soll ich unſern Rationaliſten glauben, daß die Menſch¬<lb/>
heit die Gottheit iſt — hier mußte ſich's zeigen, wo mit jeder Erfin¬<lb/>
dung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird;<lb/>ſoll ich unſern Liberalen glauben, daß der Vernunftſtaat im allge¬<lb/>
meinen Stimmrecht liegt, und die geſchichtliche Gewohnheit ein Fluch<lb/>
iſt — hier mußt' ich's erfahren, wo ich Geſetze ſehe, die der Millionär<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[150/0168]
ſüßlichen Stadtpfarrer. Darin gingen ſie auf und unter, oder ſie
fanden im nächſten Schöppenſtedt der Neuheit höchſtens ſo viel, daß
der Kirchthurm rechts ſtand, ſtatt links, und daß der Mühlbach nicht
Schleie hatte, ſondern Gründlinge. Das Deutſchland, in welchem
Werther's Piſtolenſchuß fiel oder Karl Moor Räuber warb, — und
das Deutſchland von heute ſind doch verſchiedene Weltordnungen. Es
lehrt uns, daß der Unterſchied von Ideal und Leben kein ſtehender
iſt, ſondern ein wandelbarer. Wir ſind dem Ideale näher gekommen.
Das iſt eine große Entdeckung, ein wichtiger Fortſchritt ſeit Schiller's
und Goethe's Jugendtagen. Darum — und nicht weil ſie griechiſch ge¬
logen haben, — ſind uns ihre Jugendexceſſe nicht mehr ſo leichthin erlaubt.
Man muß nicht in das erlogene Reich der Schatten flüchten, man kann
dem Ideale auf Erden näher kommen. Dieſe Wahrheit zeichnet den
Stürmern und Drängern von heute ihre neue Bahn vor. Sie wandern.
Der Poet wird künftig Touriſt ſein. Er ſucht das Ideal auf Erden, oder
vielmehr er lernt die Realität gründlicher kennen, eh er ſie verdammt
und zum Recht der Verzweiflung greift. — Byron ging nach Grie¬
chenland, ich nach Amerika. Er beſuchte ein abſterbendes Volk, ich
ein aufblühendes. Ich glaube den beſſern Weg gewählt zu haben.
Mag der große glänzende Lord ein beneidenswertheres Aufſehen erregen
als ich, der kleine ungariſche nemes-ember; eins habe ich vor ihm
voraus: ein tieferes Gewiſſen. Es iſt mir nicht um eine vorüber¬
gehende Emotion, um eine nationale Rage zu thun, die nach dem
Friedensſchluß zuſammenfällt wie ein luftleerer Schlauch. Nicht wie
die Menſchheit ihre Freiheit erkämpft, ſondern wie ſie ihre Freiheit
täglich, ſtündlich, in Haus, Kirche und Schule gebraucht — das muß
mir die Menſchheit auf ihrem Gipfel zeigen. Darum ging ich nach
Amerika. Hier ſind die größten Maßſtäbe, die weiteſten Perſpectiven,
hier iſt das Leben eine Wahrheit, und die Todten werden alle be¬
graben, nicht blos theilweiſe, wie in Europa. Hier iſt die Werkſtätte
des Ideals. Soll ich unſern Rationaliſten glauben, daß die Menſch¬
heit die Gottheit iſt — hier mußte ſich's zeigen, wo mit jeder Erfin¬
dung, mit jeder neuentdeckten Naturkraft Gottheit entbunden wird;
ſoll ich unſern Liberalen glauben, daß der Vernunftſtaat im allge¬
meinen Stimmrecht liegt, und die geſchichtliche Gewohnheit ein Fluch
iſt — hier mußt' ich's erfahren, wo ich Geſetze ſehe, die der Millionär
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/168>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.