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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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gewann, obwohl mit einigem Aufsehen das Freie. Ich sattelte mein
Pferd und bestieg es. Eine Stunde von hier lag die pennsylvanische
Grenze und Gadshill, wo Doctor Althof wohnte. Dort wollte ich
Aufnahme suchen für die kleine Annette. Denn daß ich das Kind von
dem camp-meeting entfernen müsse, verstand sich nach dieser Erstlings¬
probe von selbst. Den Meier nöthigenfalls zu beherrschen, war mein
Recht und meine Pflicht. Um ihm Fertiges zu bieten, säumte ich
keinen Augenblick, die Sache mit dem Doctor gleich abzumachen. Ich
ritt davon und hörte, glaub' ich, zischen und grunzen hinter mir.
Hoby's Geschrei: Jesus, komm herab! tönte mir vor Allem nach.

Aber nahe vor Gadshill begegnete mir Doctor Althof selbst, mit
Poll dem Apotheker. Er ritt eben auch zum camp-meeting. Ich
verwunderte mich, daß ihm seine Praxis erlaube, solchen Schauspielen
nachzugehen. Er sah mich groß an. Gerade dort ist mein Posten
jetzt, Herr College -- war seine Antwort; -- schöne Apoplexien,
Convulsionen, Ohnmachten, Krämpfe, Neuralgien in allen Sorten und
Mustern, capitale Paroxismen -- was denken Sie denn von einem
camp-meeting! Dabei wies er auf ein drittes Pferd, welches mit
einer Feldapotheke bepackt, hinter den beiden Reitern hertrabte. Ich
sah mir den Gaul mit einer Art von Respect an; dies also war die
Person, die in diesem Conventikel das letzte Wort hatte!

Ich versagte mir nicht, meinen Gefühlen über die Scene, von der
ich so eben kam, freien Lauf zu lassen.

Die Religion, sagte der Doctor, ist in Italien ein Ballet, in Spa¬
nien eine Verschwörung, in Deutschland eine philosophische Liebe, in
Amerika ist sie eine Maschine von so und so viel Pferdekraft.

Ich verwundere mich überhaupt, war meine Antwort, daß die
hiesige Menschheit nicht längst sich eine neue Religion gegeben. Das
Christenthum ward der leidenden Welt verkündet, der Sehnsucht nach
dem Jenseits; hier haben wir ein Reich der That, eine leidenschaftliche
Befangenheit im Diesseits, eine absolute Unfähigkeit zur Vertiefung
und Verinnerlichung. Lauter Gegensätze zum Christenthum. Amerika
braucht eine eigene Religion.

Ich glaube, es bekommt sie auch noch, sagte Althof; das Volk
arbeitet an allen Punkten daran. Was bedeuten diese hunderte von

D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 26

gewann, obwohl mit einigem Aufſehen das Freie. Ich ſattelte mein
Pferd und beſtieg es. Eine Stunde von hier lag die pennſylvaniſche
Grenze und Gadshill, wo Doctor Althof wohnte. Dort wollte ich
Aufnahme ſuchen für die kleine Annette. Denn daß ich das Kind von
dem camp-meeting entfernen müſſe, verſtand ſich nach dieſer Erſtlings¬
probe von ſelbſt. Den Meier nöthigenfalls zu beherrſchen, war mein
Recht und meine Pflicht. Um ihm Fertiges zu bieten, ſäumte ich
keinen Augenblick, die Sache mit dem Doctor gleich abzumachen. Ich
ritt davon und hörte, glaub' ich, ziſchen und grunzen hinter mir.
Hoby's Geſchrei: Jeſus, komm herab! tönte mir vor Allem nach.

Aber nahe vor Gadshill begegnete mir Doctor Althof ſelbſt, mit
Poll dem Apotheker. Er ritt eben auch zum camp-meeting. Ich
verwunderte mich, daß ihm ſeine Praxis erlaube, ſolchen Schauſpielen
nachzugehen. Er ſah mich groß an. Gerade dort iſt mein Poſten
jetzt, Herr College — war ſeine Antwort; — ſchöne Apoplexien,
Convulſionen, Ohnmachten, Krämpfe, Neuralgien in allen Sorten und
Muſtern, capitale Paroxismen — was denken Sie denn von einem
camp-meeting! Dabei wies er auf ein drittes Pferd, welches mit
einer Feldapotheke bepackt, hinter den beiden Reitern hertrabte. Ich
ſah mir den Gaul mit einer Art von Reſpect an; dies alſo war die
Perſon, die in dieſem Conventikel das letzte Wort hatte!

Ich verſagte mir nicht, meinen Gefühlen über die Scene, von der
ich ſo eben kam, freien Lauf zu laſſen.

Die Religion, ſagte der Doctor, iſt in Italien ein Ballet, in Spa¬
nien eine Verſchwörung, in Deutſchland eine philoſophiſche Liebe, in
Amerika iſt ſie eine Maſchine von ſo und ſo viel Pferdekraft.

Ich verwundere mich überhaupt, war meine Antwort, daß die
hieſige Menſchheit nicht längſt ſich eine neue Religion gegeben. Das
Chriſtenthum ward der leidenden Welt verkündet, der Sehnſucht nach
dem Jenſeits; hier haben wir ein Reich der That, eine leidenſchaftliche
Befangenheit im Dieſſeits, eine abſolute Unfähigkeit zur Vertiefung
und Verinnerlichung. Lauter Gegenſätze zum Chriſtenthum. Amerika
braucht eine eigene Religion.

Ich glaube, es bekommt ſie auch noch, ſagte Althof; das Volk
arbeitet an allen Punkten daran. Was bedeuten dieſe hunderte von

D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 26
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[389/0407] gewann, obwohl mit einigem Aufſehen das Freie. Ich ſattelte mein Pferd und beſtieg es. Eine Stunde von hier lag die pennſylvaniſche Grenze und Gadshill, wo Doctor Althof wohnte. Dort wollte ich Aufnahme ſuchen für die kleine Annette. Denn daß ich das Kind von dem camp-meeting entfernen müſſe, verſtand ſich nach dieſer Erſtlings¬ probe von ſelbſt. Den Meier nöthigenfalls zu beherrſchen, war mein Recht und meine Pflicht. Um ihm Fertiges zu bieten, ſäumte ich keinen Augenblick, die Sache mit dem Doctor gleich abzumachen. Ich ritt davon und hörte, glaub' ich, ziſchen und grunzen hinter mir. Hoby's Geſchrei: Jeſus, komm herab! tönte mir vor Allem nach. Aber nahe vor Gadshill begegnete mir Doctor Althof ſelbſt, mit Poll dem Apotheker. Er ritt eben auch zum camp-meeting. Ich verwunderte mich, daß ihm ſeine Praxis erlaube, ſolchen Schauſpielen nachzugehen. Er ſah mich groß an. Gerade dort iſt mein Poſten jetzt, Herr College — war ſeine Antwort; — ſchöne Apoplexien, Convulſionen, Ohnmachten, Krämpfe, Neuralgien in allen Sorten und Muſtern, capitale Paroxismen — was denken Sie denn von einem camp-meeting! Dabei wies er auf ein drittes Pferd, welches mit einer Feldapotheke bepackt, hinter den beiden Reitern hertrabte. Ich ſah mir den Gaul mit einer Art von Reſpect an; dies alſo war die Perſon, die in dieſem Conventikel das letzte Wort hatte! Ich verſagte mir nicht, meinen Gefühlen über die Scene, von der ich ſo eben kam, freien Lauf zu laſſen. Die Religion, ſagte der Doctor, iſt in Italien ein Ballet, in Spa¬ nien eine Verſchwörung, in Deutſchland eine philoſophiſche Liebe, in Amerika iſt ſie eine Maſchine von ſo und ſo viel Pferdekraft. Ich verwundere mich überhaupt, war meine Antwort, daß die hieſige Menſchheit nicht längſt ſich eine neue Religion gegeben. Das Chriſtenthum ward der leidenden Welt verkündet, der Sehnſucht nach dem Jenſeits; hier haben wir ein Reich der That, eine leidenſchaftliche Befangenheit im Dieſſeits, eine abſolute Unfähigkeit zur Vertiefung und Verinnerlichung. Lauter Gegenſätze zum Chriſtenthum. Amerika braucht eine eigene Religion. Ich glaube, es bekommt ſie auch noch, ſagte Althof; das Volk arbeitet an allen Punkten daran. Was bedeuten dieſe hunderte von D. B. VIII. Der Amerika-Müde. 26

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/407>, abgerufen am 24.11.2024.