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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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ja den heutigen Leader im Newyork-Herald nicht entgehen zu lassen --
er enthalte eine Skizze der politischen und sozialen Entwicklung Ame¬
rika's seit dem letzten englischen Krieg -- was Geistreicheres könne
eine menschliche Feder unmöglich zu Tage fördern. Moorfeld tritt in
Riley's Cafe, eines der fassionablesten auf dem Broadway, und sucht
vergebens das genannte Blatt. Endlich entdeckt er es unter den
kothigen Stiefeln eines Gentlemans, der seine langen Beine mitten in
den Lesetisch hineingelegt hat. Der Gentleman hebt auf Bitte des
Lesers das Bein ein wenig in die Höhe, läßt's aber sogleich auf die
übrigen Zeitungen wieder zurückfallen, gleichsam als gehörte es dahin,
wie ein Briefbeschwerer. Was bedeuteten nun Amerika's Fortschritte
seit dem letzten englischen Krieg? Moorfeld dachte, es hätte seit dem
letzten englischen Krieg lernen sollen, seine Beine unter den Tisch zu
stellen.

Wir würden diese Anführungen in's Unendliche vervielfältigen
müssen, um deutlich zu machen, wie der Gemüthszustand unsers Frem¬
den während dieser Tage in ein Stadium eintrat, das sich nur schwer
definiren läßt. Es ist ein eigenthümlicher Scheideprozeß, der alle vor¬
handenen Elemente des Charakters in Auflösung setzt, und indem er
die Formen der Neubildung zunächst noch gar nicht errathen läßt,
unerträglich genug als ein eigentlich Charakterloses bezeichnet werden
muß. Und gerade Männer, die in der Heimath Subjectivitäten und
Physiognomien ersten Ranges waren, sehen wir in der Fremde auf
diese unbegreifliche Weise plötzlich weit unter sich selbst zurückgehen,
wie uns denn z. B. die Berliner Freunde und Reisegenossen Rückert's, die¬
ser markvollen Mannesgestalt, vor welcher die römischen Kindermädchen
mit dem Angstschrei: "Simone Mago!" *) die Flucht ergriffen, zum
drastischen Gegensatz jener Anecdote den lächerlichen, ja eigentlich fei¬
gen Zug zum Besten geben, daß dieser arme Zauberer selbst durch
ganz Italien nirgend zu vermögen gewesen, im Freien Platz zu neh¬
men, weil er in einer beständigen Scheue vor Giftschlangen einherge¬
wandelt. Dieses Schrecken der Fremde, dieses unbehagliche Be¬
wußtsein einer tiefen Gegensätzlichkeit zwischen sich und dem Neuen,
welches mit dem Worte der Schlangenfurcht gewiß nur poetisch indi¬

*) Der Zauberer Simon!

ja den heutigen Leader im Newyork-Herald nicht entgehen zu laſſen —
er enthalte eine Skizze der politiſchen und ſozialen Entwicklung Ame¬
rika's ſeit dem letzten engliſchen Krieg — was Geiſtreicheres könne
eine menſchliche Feder unmöglich zu Tage fördern. Moorfeld tritt in
Riley's Café‚ eines der fasſionableſten auf dem Broadway, und ſucht
vergebens das genannte Blatt. Endlich entdeckt er es unter den
kothigen Stiefeln eines Gentlemans, der ſeine langen Beine mitten in
den Leſetiſch hineingelegt hat. Der Gentleman hebt auf Bitte des
Leſers das Bein ein wenig in die Höhe, läßt's aber ſogleich auf die
übrigen Zeitungen wieder zurückfallen, gleichſam als gehörte es dahin,
wie ein Briefbeſchwerer. Was bedeuteten nun Amerika's Fortſchritte
ſeit dem letzten engliſchen Krieg? Moorfeld dachte, es hätte ſeit dem
letzten engliſchen Krieg lernen ſollen, ſeine Beine unter den Tiſch zu
ſtellen.

Wir würden dieſe Anführungen in's Unendliche vervielfältigen
müſſen, um deutlich zu machen, wie der Gemüthszuſtand unſers Frem¬
den während dieſer Tage in ein Stadium eintrat, das ſich nur ſchwer
definiren läßt. Es iſt ein eigenthümlicher Scheideprozeß, der alle vor¬
handenen Elemente des Charakters in Auflöſung ſetzt, und indem er
die Formen der Neubildung zunächſt noch gar nicht errathen läßt,
unerträglich genug als ein eigentlich Charakterloſes bezeichnet werden
muß. Und gerade Männer, die in der Heimath Subjectivitäten und
Phyſiognomien erſten Ranges waren, ſehen wir in der Fremde auf
dieſe unbegreifliche Weiſe plötzlich weit unter ſich ſelbſt zurückgehen,
wie uns denn z. B. die Berliner Freunde und Reiſegenoſſen Rückert's, die¬
ſer markvollen Mannesgeſtalt, vor welcher die römiſchen Kindermädchen
mit dem Angſtſchrei: „Simone Mago!“ *) die Flucht ergriffen, zum
draſtiſchen Gegenſatz jener Anecdote den lächerlichen, ja eigentlich fei¬
gen Zug zum Beſten geben, daß dieſer arme Zauberer ſelbſt durch
ganz Italien nirgend zu vermögen geweſen, im Freien Platz zu neh¬
men, weil er in einer beſtändigen Scheue vor Giftſchlangen einherge¬
wandelt. Dieſes Schrecken der Fremde, dieſes unbehagliche Be¬
wußtſein einer tiefen Gegenſätzlichkeit zwiſchen ſich und dem Neuen,
welches mit dem Worte der Schlangenfurcht gewiß nur poetiſch indi¬

*) Der Zauberer Simon!
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[79/0097] ja den heutigen Leader im Newyork-Herald nicht entgehen zu laſſen — er enthalte eine Skizze der politiſchen und ſozialen Entwicklung Ame¬ rika's ſeit dem letzten engliſchen Krieg — was Geiſtreicheres könne eine menſchliche Feder unmöglich zu Tage fördern. Moorfeld tritt in Riley's Café‚ eines der fasſionableſten auf dem Broadway, und ſucht vergebens das genannte Blatt. Endlich entdeckt er es unter den kothigen Stiefeln eines Gentlemans, der ſeine langen Beine mitten in den Leſetiſch hineingelegt hat. Der Gentleman hebt auf Bitte des Leſers das Bein ein wenig in die Höhe, läßt's aber ſogleich auf die übrigen Zeitungen wieder zurückfallen, gleichſam als gehörte es dahin, wie ein Briefbeſchwerer. Was bedeuteten nun Amerika's Fortſchritte ſeit dem letzten engliſchen Krieg? Moorfeld dachte, es hätte ſeit dem letzten engliſchen Krieg lernen ſollen, ſeine Beine unter den Tiſch zu ſtellen. Wir würden dieſe Anführungen in's Unendliche vervielfältigen müſſen, um deutlich zu machen, wie der Gemüthszuſtand unſers Frem¬ den während dieſer Tage in ein Stadium eintrat, das ſich nur ſchwer definiren läßt. Es iſt ein eigenthümlicher Scheideprozeß, der alle vor¬ handenen Elemente des Charakters in Auflöſung ſetzt, und indem er die Formen der Neubildung zunächſt noch gar nicht errathen läßt, unerträglich genug als ein eigentlich Charakterloſes bezeichnet werden muß. Und gerade Männer, die in der Heimath Subjectivitäten und Phyſiognomien erſten Ranges waren, ſehen wir in der Fremde auf dieſe unbegreifliche Weiſe plötzlich weit unter ſich ſelbſt zurückgehen, wie uns denn z. B. die Berliner Freunde und Reiſegenoſſen Rückert's, die¬ ſer markvollen Mannesgeſtalt, vor welcher die römiſchen Kindermädchen mit dem Angſtſchrei: „Simone Mago!“ *) die Flucht ergriffen, zum draſtiſchen Gegenſatz jener Anecdote den lächerlichen, ja eigentlich fei¬ gen Zug zum Beſten geben, daß dieſer arme Zauberer ſelbſt durch ganz Italien nirgend zu vermögen geweſen, im Freien Platz zu neh¬ men, weil er in einer beſtändigen Scheue vor Giftſchlangen einherge¬ wandelt. Dieſes Schrecken der Fremde, dieſes unbehagliche Be¬ wußtſein einer tiefen Gegenſätzlichkeit zwiſchen ſich und dem Neuen, welches mit dem Worte der Schlangenfurcht gewiß nur poetiſch indi¬ *) Der Zauberer Simon!

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/97>, abgerufen am 24.11.2024.