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Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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strammen Sack voll herrlichen Weizen stehen. Er betrachtete den Weizen, wagte aber nicht ihn anzurühren, da er wußte, daß er nicht seine war. Ein Nachbar, glaubte er, hätt' ihn vielleicht dahingestellt. Der Kappbauer wartete den ganzen Tag, daß der Eigenthümer sich zeigen möchte; aber der Eigenthümer war Herr Niemand. Am folgenden Tag fand er einen zweiten Sack neben dem ersten stehen, und wieder kam Niemand, dem er gehört hätte. In der dritten Nacht verrammelte der Kappbauer das ganze Haus, nicht vor Dieben, sondern vor Bringern; aber es war tolle! am dritten Morgen stand doch ein dritter Sack da. Nunmehr wurde dem Manne angst und bange; er fragte den Pastor um Rath. Der Pastor sagte ihm, er solle nur Alles geruhig stehen lassen. Im Weizen läg's nicht, aber wahrscheinlich wär's mit dem schreienden Vöglein nicht richtig. Das sollt' er wieder zurücktragen, und zwar in denselben Busch, wo er es gefunden, auch möcht' er ein Vaterunser dazu sprechen. Der Kappbauer trug das Vöglein zurück. Kaum aber war das Thier wieder in dem Busch, da fing es noch wüthender an zu schreien und lief flügelschlagend auf und ab, wie ein tolles zorniges Kerlchen. Schrei' du, dachte der Kappbaner und sprach herzhaft sein Vaterunser dazu. Da war's alle. Denn nicht sobald hatte der Kappbauer die Worte gesprochen: führe uns nicht in Versuchung; denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit -- da zerging das Vöglein, und ein blaues Dunstwölkchen hüstelte durch die Luft an der Stelle, wo erst noch sein gottloses Gepieps erschollen. Darauf ging der Kappbauer erleichterten Herzens nach Hause, und das Däuschen! jetzt waren auch die Weizensäcke fort, die ihm der Böse hinter die Thür gezaubert. Reine weg waren sie, sogar die einzelnen Körnlein, die d'rum 'rum gelegen am Boden der Stube, waren verschwunden. So ärgerlich war

strammen Sack voll herrlichen Weizen stehen. Er betrachtete den Weizen, wagte aber nicht ihn anzurühren, da er wußte, daß er nicht seine war. Ein Nachbar, glaubte er, hätt' ihn vielleicht dahingestellt. Der Kappbauer wartete den ganzen Tag, daß der Eigenthümer sich zeigen möchte; aber der Eigenthümer war Herr Niemand. Am folgenden Tag fand er einen zweiten Sack neben dem ersten stehen, und wieder kam Niemand, dem er gehört hätte. In der dritten Nacht verrammelte der Kappbauer das ganze Haus, nicht vor Dieben, sondern vor Bringern; aber es war tolle! am dritten Morgen stand doch ein dritter Sack da. Nunmehr wurde dem Manne angst und bange; er fragte den Pastor um Rath. Der Pastor sagte ihm, er solle nur Alles geruhig stehen lassen. Im Weizen läg's nicht, aber wahrscheinlich wär's mit dem schreienden Vöglein nicht richtig. Das sollt' er wieder zurücktragen, und zwar in denselben Busch, wo er es gefunden, auch möcht' er ein Vaterunser dazu sprechen. Der Kappbauer trug das Vöglein zurück. Kaum aber war das Thier wieder in dem Busch, da fing es noch wüthender an zu schreien und lief flügelschlagend auf und ab, wie ein tolles zorniges Kerlchen. Schrei' du, dachte der Kappbaner und sprach herzhaft sein Vaterunser dazu. Da war's alle. Denn nicht sobald hatte der Kappbauer die Worte gesprochen: führe uns nicht in Versuchung; denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit — da zerging das Vöglein, und ein blaues Dunstwölkchen hüstelte durch die Luft an der Stelle, wo erst noch sein gottloses Gepieps erschollen. Darauf ging der Kappbauer erleichterten Herzens nach Hause, und das Däuschen! jetzt waren auch die Weizensäcke fort, die ihm der Böse hinter die Thür gezaubert. Reine weg waren sie, sogar die einzelnen Körnlein, die d'rum 'rum gelegen am Boden der Stube, waren verschwunden. So ärgerlich war

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strammen Sack voll herrlichen Weizen stehen. Er betrachtete den Weizen, wagte      aber nicht ihn anzurühren, da er wußte, daß er nicht seine war. Ein Nachbar, glaubte er, hätt'      ihn vielleicht dahingestellt. Der Kappbauer wartete den ganzen Tag, daß der Eigenthümer sich      zeigen möchte; aber der Eigenthümer war Herr Niemand. Am folgenden Tag fand er einen zweiten      Sack neben dem ersten stehen, und wieder kam Niemand, dem er gehört hätte. In der dritten Nacht      verrammelte der Kappbauer das ganze Haus, nicht vor Dieben, sondern vor Bringern; aber es war      tolle! am dritten Morgen stand doch ein dritter Sack da. Nunmehr wurde dem Manne angst und      bange; er fragte den Pastor um Rath. Der Pastor sagte ihm, er solle nur Alles geruhig stehen      lassen. Im Weizen läg's nicht, aber wahrscheinlich wär's mit dem schreienden Vöglein nicht      richtig. Das sollt' er wieder zurücktragen, und zwar in denselben Busch, wo er es gefunden,      auch möcht' er ein Vaterunser dazu sprechen. Der Kappbauer trug das Vöglein zurück. Kaum aber      war das Thier wieder in dem Busch, da fing es noch wüthender an zu schreien und lief      flügelschlagend auf und ab, wie ein tolles zorniges Kerlchen. Schrei' du, dachte der Kappbaner      und sprach herzhaft sein Vaterunser dazu. Da war's alle. Denn nicht sobald hatte der Kappbauer      die Worte gesprochen: führe uns nicht in Versuchung; denn dein ist das Reich, und die Kraft und      die Herrlichkeit in alle Ewigkeit &#x2014; da zerging das Vöglein, und ein blaues Dunstwölkchen      hüstelte durch die Luft an der Stelle, wo erst noch sein gottloses Gepieps erschollen. Darauf      ging der Kappbauer erleichterten Herzens nach Hause, und das Däuschen! jetzt waren auch die      Weizensäcke fort, die ihm der Böse hinter die Thür gezaubert. Reine weg waren sie, sogar die      einzelnen Körnlein, die d'rum 'rum gelegen am Boden der Stube, waren verschwunden. So ärgerlich      war<lb/></p>
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[0016] strammen Sack voll herrlichen Weizen stehen. Er betrachtete den Weizen, wagte aber nicht ihn anzurühren, da er wußte, daß er nicht seine war. Ein Nachbar, glaubte er, hätt' ihn vielleicht dahingestellt. Der Kappbauer wartete den ganzen Tag, daß der Eigenthümer sich zeigen möchte; aber der Eigenthümer war Herr Niemand. Am folgenden Tag fand er einen zweiten Sack neben dem ersten stehen, und wieder kam Niemand, dem er gehört hätte. In der dritten Nacht verrammelte der Kappbauer das ganze Haus, nicht vor Dieben, sondern vor Bringern; aber es war tolle! am dritten Morgen stand doch ein dritter Sack da. Nunmehr wurde dem Manne angst und bange; er fragte den Pastor um Rath. Der Pastor sagte ihm, er solle nur Alles geruhig stehen lassen. Im Weizen läg's nicht, aber wahrscheinlich wär's mit dem schreienden Vöglein nicht richtig. Das sollt' er wieder zurücktragen, und zwar in denselben Busch, wo er es gefunden, auch möcht' er ein Vaterunser dazu sprechen. Der Kappbauer trug das Vöglein zurück. Kaum aber war das Thier wieder in dem Busch, da fing es noch wüthender an zu schreien und lief flügelschlagend auf und ab, wie ein tolles zorniges Kerlchen. Schrei' du, dachte der Kappbaner und sprach herzhaft sein Vaterunser dazu. Da war's alle. Denn nicht sobald hatte der Kappbauer die Worte gesprochen: führe uns nicht in Versuchung; denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit — da zerging das Vöglein, und ein blaues Dunstwölkchen hüstelte durch die Luft an der Stelle, wo erst noch sein gottloses Gepieps erschollen. Darauf ging der Kappbauer erleichterten Herzens nach Hause, und das Däuschen! jetzt waren auch die Weizensäcke fort, die ihm der Böse hinter die Thür gezaubert. Reine weg waren sie, sogar die einzelnen Körnlein, die d'rum 'rum gelegen am Boden der Stube, waren verschwunden. So ärgerlich war

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:57:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:57:16Z)

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910/16>, abgerufen am 23.11.2024.