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Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896.

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dass man sie nur mit Einsicht und gutem Willen zurecht-
rücken könnte. In den breitesten Schichten des Volkes
werden Hygiene und Gesundheitspflege vorläufig ein schöner
Traum bleiben und der Arzt wird mit tiefer Entmuthigung
einer unmöglichen Aufgabe gegenüberstehen. Aber gerade
unter den Frauen, denen der Arzt ihre Unzulänglichkeit am
liebsten und leider mit der grössten Berechtigung vorwirft,
wäre es ihm in der That möglich, Wandel zu schaffen, und
er schafft ihn nicht.

"Ich bin mir bewusst, damit eine schwere Anklage aus-
zusprechen. Aber ist sie nicht durch die Thatsachen be-
rechtigt? Was geschieht heute durch die Aerzte für eine
halbwegs vernünftige Erziehung der Mädchen? Und wie-
viel könnte geschehen! Wer kümmert sich darum, dass die
Lebensweise des durchschnittlichen Mädchens auf Schritt
und Tritt jedem Gesetz einer naturgemässen Entwickelung
Hohn spricht? Es giebt keinen Factor in ihrem täglichen
Leben, der nicht an dem Degenerationswerke mitarbeitet.
Die Ernährung, dieser Grundstein der gesammten Constitution,
ist erbärmlich. Die Körperbewegung, in einigermassen ge-
nügendem Umfang, existirt für die Mädchen überhaupt nicht.
Und die Ruhe? Gehen sie nicht durchschnittlich während
der ganzen Schulzeit täglich zwei bis drei Stunden zu spät
in's Bett? Dazu kommt eine Kleidung, die eine gesunde
Körperbewegung ausschliesst, und ein Umgang, der die In-
telligenz brachlegt. Das alles geschieht unter dem grünen
Baum der hausärztlichen Aufsicht, in Familien, wo es an
nichts fehlt, als Verständniss.

"Die Aerzte und nur die Aerzte können hier eingreifen.
Thun sie es? Einzelne, gewiss. Aber die Mehrzahl? Wo
ist der Hausarzt, der sich nach den täglichen Nahrungs-
mengen der Mädchen erkundigt, der sich darüber Rechen-
schaft giebt, ob die verbrauchten Speisen auch wirklich die
nöthigen Mengen Bau- und Brennstoff enthalten: Einige
solche Untersuchungen in wohlhabenden Familien dürften

dass man sie nur mit Einsicht und gutem Willen zurecht-
rücken könnte. In den breitesten Schichten des Volkes
werden Hygiene und Gesundheitspflege vorläufig ein schöner
Traum bleiben und der Arzt wird mit tiefer Entmuthigung
einer unmöglichen Aufgabe gegenüberstehen. Aber gerade
unter den Frauen, denen der Arzt ihre Unzulänglichkeit am
liebsten und leider mit der grössten Berechtigung vorwirft,
wäre es ihm in der That möglich, Wandel zu schaffen, und
er schafft ihn nicht.

„Ich bin mir bewusst, damit eine schwere Anklage aus-
zusprechen. Aber ist sie nicht durch die Thatsachen be-
rechtigt? Was geschieht heute durch die Aerzte für eine
halbwegs vernünftige Erziehung der Mädchen? Und wie-
viel könnte geschehen! Wer kümmert sich darum, dass die
Lebensweise des durchschnittlichen Mädchens auf Schritt
und Tritt jedem Gesetz einer naturgemässen Entwickelung
Hohn spricht? Es giebt keinen Factor in ihrem täglichen
Leben, der nicht an dem Degenerationswerke mitarbeitet.
Die Ernährung, dieser Grundstein der gesammten Constitution,
ist erbärmlich. Die Körperbewegung, in einigermassen ge-
nügendem Umfang, existirt für die Mädchen überhaupt nicht.
Und die Ruhe? Gehen sie nicht durchschnittlich während
der ganzen Schulzeit täglich zwei bis drei Stunden zu spät
in's Bett? Dazu kommt eine Kleidung, die eine gesunde
Körperbewegung ausschliesst, und ein Umgang, der die In-
telligenz brachlegt. Das alles geschieht unter dem grünen
Baum der hausärztlichen Aufsicht, in Familien, wo es an
nichts fehlt, als Verständniss.

„Die Aerzte und nur die Aerzte können hier eingreifen.
Thun sie es? Einzelne, gewiss. Aber die Mehrzahl? Wo
ist der Hausarzt, der sich nach den täglichen Nahrungs-
mengen der Mädchen erkundigt, der sich darüber Rechen-
schaft giebt, ob die verbrauchten Speisen auch wirklich die
nöthigen Mengen Bau- und Brennstoff enthalten: Einige
solche Untersuchungen in wohlhabenden Familien dürften

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[24/0025] dass man sie nur mit Einsicht und gutem Willen zurecht- rücken könnte. In den breitesten Schichten des Volkes werden Hygiene und Gesundheitspflege vorläufig ein schöner Traum bleiben und der Arzt wird mit tiefer Entmuthigung einer unmöglichen Aufgabe gegenüberstehen. Aber gerade unter den Frauen, denen der Arzt ihre Unzulänglichkeit am liebsten und leider mit der grössten Berechtigung vorwirft, wäre es ihm in der That möglich, Wandel zu schaffen, und er schafft ihn nicht. „Ich bin mir bewusst, damit eine schwere Anklage aus- zusprechen. Aber ist sie nicht durch die Thatsachen be- rechtigt? Was geschieht heute durch die Aerzte für eine halbwegs vernünftige Erziehung der Mädchen? Und wie- viel könnte geschehen! Wer kümmert sich darum, dass die Lebensweise des durchschnittlichen Mädchens auf Schritt und Tritt jedem Gesetz einer naturgemässen Entwickelung Hohn spricht? Es giebt keinen Factor in ihrem täglichen Leben, der nicht an dem Degenerationswerke mitarbeitet. Die Ernährung, dieser Grundstein der gesammten Constitution, ist erbärmlich. Die Körperbewegung, in einigermassen ge- nügendem Umfang, existirt für die Mädchen überhaupt nicht. Und die Ruhe? Gehen sie nicht durchschnittlich während der ganzen Schulzeit täglich zwei bis drei Stunden zu spät in's Bett? Dazu kommt eine Kleidung, die eine gesunde Körperbewegung ausschliesst, und ein Umgang, der die In- telligenz brachlegt. Das alles geschieht unter dem grünen Baum der hausärztlichen Aufsicht, in Familien, wo es an nichts fehlt, als Verständniss. „Die Aerzte und nur die Aerzte können hier eingreifen. Thun sie es? Einzelne, gewiss. Aber die Mehrzahl? Wo ist der Hausarzt, der sich nach den täglichen Nahrungs- mengen der Mädchen erkundigt, der sich darüber Rechen- schaft giebt, ob die verbrauchten Speisen auch wirklich die nöthigen Mengen Bau- und Brennstoff enthalten: Einige solche Untersuchungen in wohlhabenden Familien dürften

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Zitationshilfe: Kuhnow, Anna: Gedanken und Erfahrungen über Frauenbildung und Frauenberuf. Leipzig, 1896, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuhnow_gedanken_1896/25>, abgerufen am 03.12.2024.