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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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Laß' es nur noch ein wenig anstehen, sagte sie, es ist mir so angst.

Und wenn sie fragen ob jemand unter der Kirch' bei dir gewesen
sei, so sag'st ohne Weiters ja, ich sei dagewesen.

Sie versprach Alles und trieb ihn wiederholt zur Eile an, so daß
er, als sie sich von einander losrißen, noch lange nicht genug geküßt
zu haben meinte.

Er hatte seinen guten Grund, das Haus auf der Vorderseite zu
verlassen. Es sollten nicht doppelte Fußstapfen hinterbleiben, die viel¬
leicht ein endloses Gewirr von Vermuthungen wach gerufen haben
würden. Er trat sorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte
ihnen, um auf diese Weise etwa herauszubringen, wer vor dem Fen¬
ster gewesen sein möchte. Die Spuren führten an den äußersten
Häusern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gä߬
chen, wo sie sich aber bald mit andern Fußstapfen vermischten. Er
mußte seine Nachforschung als fruchtlos erkennen und ging kopfschüt¬
telnd seines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er
konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick
zu begegnen; da er sich aber ruhig in den Zug mischte, so brachte
dies Viele, die sich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Musterung
der Zuhörer beschäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls
aus der Kirche komme.


10.

In der Sonne wurde der Neujahrstag mit einem Familienessen
gefeiert. Die beiden Schwiegersöhne hatten sich mit ihren Frauen nach
der Kirche zur Gratulation eingefunden und blieben nach hergebrachter
Weise zu Tische da. Als Friedrich nach Hause kam, fand er schon
die ganze Familie versammelt. Da muß irgendwo ein Rädle gebro¬
chen sein, dachte er, denn der Empfang war in der That ein sehr
wunderlicher. Der Chirurg wußte seinem Gesicht einen gewissen
verlegenen Ausdruck zu geben; der Handelsmann, ein kugelrundes
Figürchen in hellgelbem Rock, himmelblauer Weste und mit lang

Laß' es nur noch ein wenig anſtehen, ſagte ſie, es iſt mir ſo angſt.

Und wenn ſie fragen ob jemand unter der Kirch' bei dir geweſen
ſei, ſo ſag'ſt ohne Weiters ja, ich ſei dageweſen.

Sie verſprach Alles und trieb ihn wiederholt zur Eile an, ſo daß
er, als ſie ſich von einander losrißen, noch lange nicht genug geküßt
zu haben meinte.

Er hatte ſeinen guten Grund, das Haus auf der Vorderſeite zu
verlaſſen. Es ſollten nicht doppelte Fußſtapfen hinterbleiben, die viel¬
leicht ein endloſes Gewirr von Vermuthungen wach gerufen haben
würden. Er trat ſorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte
ihnen, um auf dieſe Weiſe etwa herauszubringen, wer vor dem Fen¬
ſter geweſen ſein möchte. Die Spuren führten an den äußerſten
Häuſern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gä߬
chen, wo ſie ſich aber bald mit andern Fußſtapfen vermiſchten. Er
mußte ſeine Nachforſchung als fruchtlos erkennen und ging kopfſchüt¬
telnd ſeines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er
konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick
zu begegnen; da er ſich aber ruhig in den Zug miſchte, ſo brachte
dies Viele, die ſich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Muſterung
der Zuhörer beſchäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls
aus der Kirche komme.


10.

In der Sonne wurde der Neujahrstag mit einem Familieneſſen
gefeiert. Die beiden Schwiegerſöhne hatten ſich mit ihren Frauen nach
der Kirche zur Gratulation eingefunden und blieben nach hergebrachter
Weiſe zu Tiſche da. Als Friedrich nach Hauſe kam, fand er ſchon
die ganze Familie verſammelt. Da muß irgendwo ein Rädle gebro¬
chen ſein, dachte er, denn der Empfang war in der That ein ſehr
wunderlicher. Der Chirurg wußte ſeinem Geſicht einen gewiſſen
verlegenen Ausdruck zu geben; der Handelsmann, ein kugelrundes
Figürchen in hellgelbem Rock, himmelblauer Weſte und mit lang

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[130/0146] Laß' es nur noch ein wenig anſtehen, ſagte ſie, es iſt mir ſo angſt. Und wenn ſie fragen ob jemand unter der Kirch' bei dir geweſen ſei, ſo ſag'ſt ohne Weiters ja, ich ſei dageweſen. Sie verſprach Alles und trieb ihn wiederholt zur Eile an, ſo daß er, als ſie ſich von einander losrißen, noch lange nicht genug geküßt zu haben meinte. Er hatte ſeinen guten Grund, das Haus auf der Vorderſeite zu verlaſſen. Es ſollten nicht doppelte Fußſtapfen hinterbleiben, die viel¬ leicht ein endloſes Gewirr von Vermuthungen wach gerufen haben würden. Er trat ſorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte ihnen, um auf dieſe Weiſe etwa herauszubringen, wer vor dem Fen¬ ſter geweſen ſein möchte. Die Spuren führten an den äußerſten Häuſern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gä߬ chen, wo ſie ſich aber bald mit andern Fußſtapfen vermiſchten. Er mußte ſeine Nachforſchung als fruchtlos erkennen und ging kopfſchüt¬ telnd ſeines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick zu begegnen; da er ſich aber ruhig in den Zug miſchte, ſo brachte dies Viele, die ſich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Muſterung der Zuhörer beſchäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls aus der Kirche komme. 10. In der Sonne wurde der Neujahrstag mit einem Familieneſſen gefeiert. Die beiden Schwiegerſöhne hatten ſich mit ihren Frauen nach der Kirche zur Gratulation eingefunden und blieben nach hergebrachter Weiſe zu Tiſche da. Als Friedrich nach Hauſe kam, fand er ſchon die ganze Familie verſammelt. Da muß irgendwo ein Rädle gebro¬ chen ſein, dachte er, denn der Empfang war in der That ein ſehr wunderlicher. Der Chirurg wußte ſeinem Geſicht einen gewiſſen verlegenen Ausdruck zu geben; der Handelsmann, ein kugelrundes Figürchen in hellgelbem Rock, himmelblauer Weſte und mit lang

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/146>, abgerufen am 24.11.2024.