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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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wie die strenge Mutter, geben dem Menschen für das Leben die gleiche
Vorschrift: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; und wenn diese
Lehre befolgt würde, wenn mit diesem Beispiel die Lehrenden selbst
und unter ihnen die heißesten Eiferer für ihre Kirche und ihren Glau¬
ben zuerst vorangingen, so wäre unter den Flügeln der einen wie der
andern dem Menschen eine gute Wohnstätte bereitet. Daß auf der
einen wie auf der andern Seite von dieser Liebe nicht gar viel zu
spüren ist, das ist wohl zunächst die Schuld des einzelnen Menschen,
noch weit mehr aber die Schuld und Noth des ganzen Kreises, aus
dem er stammt und in dem er lebt. Die Liebe, ob sie schmeicheln
oder züchtigen mag, ist ein Weib und kann nicht dem Haushalte vor¬
stehen, der neben der Mutter des Mannes, des Vaters bedarf; und
wenn das Volk, das in so vielen stolzen Söhnen sich rühmt, das
zweite auserwählte der Weltgeschichte zu sein, wenn dieses Volk am
Ziele seiner harten Arbeit und Mühsal die Gesetzestafeln findet, welche
den zerrütteten Haushalt der Völkerwelt von neuem ordnen, jedem ein¬
zelnen Kinde des Hauses sein Lebensrecht und seine Lebenspflicht in
ungezwungen menschlichem Maße zuwägen, dann ist der Vater zu
der Mutter gefunden, dann werden Recht und Liebe neben einander,
eins das andere beschränkend, beschirmend, verklärend, in dem neu er¬
bauten Hause walten.

Die schwarze Christine that sich auf ihre pflichtmäßigen Religions¬
übungen nicht weniger zu gut als die ehrbare Protestantin, welche sonntäg¬
lich zur Kirche geht, um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der
andächtigen Gemeinde gesehen zu werden, und das mit einem gewissen
Recht: denn unter den Leuten, welche nicht durch die Schulen der
Philosophen, sondern bloß durch ihre Confessionsschule, unmittelbar oder
mittelbar, gegangen sind, gilt es für eine Brandmarkung, keine
Religion zu haben, weil diese ihnen das unverstandene, aber eben
darum desto mehr mit der Ahnung festgehaltene Wahrzeichen ist, daß
man einem Menschen im Verkehr mit Seinesgleichen trauen könne.
So oft sie auch sich selbst und Andere schon mit diesem Wahrzeichen ge¬
täuscht haben, sie halten immer wieder daran fest, nicht mit dem Verstande,
der die geheimnißvolle Kammer der Glaubensschätze als Prunkgemach
für hohe Feste das ganze Jahr verschlossen läßt und vorsichtig seinen
Geschäften nachgeht, sondern mit dem Herzen, welches dunkel fühlt,

wie die ſtrenge Mutter, geben dem Menſchen für das Leben die gleiche
Vorſchrift: Liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt; und wenn dieſe
Lehre befolgt würde, wenn mit dieſem Beiſpiel die Lehrenden ſelbſt
und unter ihnen die heißeſten Eiferer für ihre Kirche und ihren Glau¬
ben zuerſt vorangingen, ſo wäre unter den Flügeln der einen wie der
andern dem Menſchen eine gute Wohnſtätte bereitet. Daß auf der
einen wie auf der andern Seite von dieſer Liebe nicht gar viel zu
ſpüren iſt, das iſt wohl zunächſt die Schuld des einzelnen Menſchen,
noch weit mehr aber die Schuld und Noth des ganzen Kreiſes, aus
dem er ſtammt und in dem er lebt. Die Liebe, ob ſie ſchmeicheln
oder züchtigen mag, iſt ein Weib und kann nicht dem Haushalte vor¬
ſtehen, der neben der Mutter des Mannes, des Vaters bedarf; und
wenn das Volk, das in ſo vielen ſtolzen Söhnen ſich rühmt, das
zweite auserwählte der Weltgeſchichte zu ſein, wenn dieſes Volk am
Ziele ſeiner harten Arbeit und Mühſal die Geſetzestafeln findet, welche
den zerrütteten Haushalt der Völkerwelt von neuem ordnen, jedem ein¬
zelnen Kinde des Hauſes ſein Lebensrecht und ſeine Lebenspflicht in
ungezwungen menſchlichem Maße zuwägen, dann iſt der Vater zu
der Mutter gefunden, dann werden Recht und Liebe neben einander,
eins das andere beſchränkend, beſchirmend, verklärend, in dem neu er¬
bauten Hauſe walten.

Die ſchwarze Chriſtine that ſich auf ihre pflichtmäßigen Religions¬
übungen nicht weniger zu gut als die ehrbare Proteſtantin, welche ſonntäg¬
lich zur Kirche geht, um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der
andächtigen Gemeinde geſehen zu werden, und das mit einem gewiſſen
Recht: denn unter den Leuten, welche nicht durch die Schulen der
Philoſophen, ſondern bloß durch ihre Confeſſionsſchule, unmittelbar oder
mittelbar, gegangen ſind, gilt es für eine Brandmarkung, keine
Religion zu haben, weil dieſe ihnen das unverſtandene, aber eben
darum deſto mehr mit der Ahnung feſtgehaltene Wahrzeichen iſt, daß
man einem Menſchen im Verkehr mit Seinesgleichen trauen könne.
So oft ſie auch ſich ſelbſt und Andere ſchon mit dieſem Wahrzeichen ge¬
täuſcht haben, ſie halten immer wieder daran feſt, nicht mit dem Verſtande,
der die geheimnißvolle Kammer der Glaubensſchätze als Prunkgemach
für hohe Feſte das ganze Jahr verſchloſſen läßt und vorſichtig ſeinen
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[460/0476] wie die ſtrenge Mutter, geben dem Menſchen für das Leben die gleiche Vorſchrift: Liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt; und wenn dieſe Lehre befolgt würde, wenn mit dieſem Beiſpiel die Lehrenden ſelbſt und unter ihnen die heißeſten Eiferer für ihre Kirche und ihren Glau¬ ben zuerſt vorangingen, ſo wäre unter den Flügeln der einen wie der andern dem Menſchen eine gute Wohnſtätte bereitet. Daß auf der einen wie auf der andern Seite von dieſer Liebe nicht gar viel zu ſpüren iſt, das iſt wohl zunächſt die Schuld des einzelnen Menſchen, noch weit mehr aber die Schuld und Noth des ganzen Kreiſes, aus dem er ſtammt und in dem er lebt. Die Liebe, ob ſie ſchmeicheln oder züchtigen mag, iſt ein Weib und kann nicht dem Haushalte vor¬ ſtehen, der neben der Mutter des Mannes, des Vaters bedarf; und wenn das Volk, das in ſo vielen ſtolzen Söhnen ſich rühmt, das zweite auserwählte der Weltgeſchichte zu ſein, wenn dieſes Volk am Ziele ſeiner harten Arbeit und Mühſal die Geſetzestafeln findet, welche den zerrütteten Haushalt der Völkerwelt von neuem ordnen, jedem ein¬ zelnen Kinde des Hauſes ſein Lebensrecht und ſeine Lebenspflicht in ungezwungen menſchlichem Maße zuwägen, dann iſt der Vater zu der Mutter gefunden, dann werden Recht und Liebe neben einander, eins das andere beſchränkend, beſchirmend, verklärend, in dem neu er¬ bauten Hauſe walten. Die ſchwarze Chriſtine that ſich auf ihre pflichtmäßigen Religions¬ übungen nicht weniger zu gut als die ehrbare Proteſtantin, welche ſonntäg¬ lich zur Kirche geht, um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der andächtigen Gemeinde geſehen zu werden, und das mit einem gewiſſen Recht: denn unter den Leuten, welche nicht durch die Schulen der Philoſophen, ſondern bloß durch ihre Confeſſionsſchule, unmittelbar oder mittelbar, gegangen ſind, gilt es für eine Brandmarkung, keine Religion zu haben, weil dieſe ihnen das unverſtandene, aber eben darum deſto mehr mit der Ahnung feſtgehaltene Wahrzeichen iſt, daß man einem Menſchen im Verkehr mit Seinesgleichen trauen könne. So oft ſie auch ſich ſelbſt und Andere ſchon mit dieſem Wahrzeichen ge¬ täuſcht haben, ſie halten immer wieder daran feſt, nicht mit dem Verſtande, der die geheimnißvolle Kammer der Glaubensſchätze als Prunkgemach für hohe Feſte das ganze Jahr verſchloſſen läßt und vorſichtig ſeinen Geſchäften nachgeht, ſondern mit dem Herzen, welches dunkel fühlt,

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/476>, abgerufen am 22.11.2024.