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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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sucht. Gerade hierin aber lag zwischen ihr und dem nicht von Kindes¬
beinen an, sondern erst in späteren Jahren ausgestoßenen Sohne des
herrschenden Volkes ein Gegensatz, der immer eine Kluft zwischen ihnen
offen erhalten mußte. Zehnmal mochte er ihr in den Stunden der
Leidenschaft beistimmen, daß die Gesellschaft, die er verlassen, aus lauter
Spitzbuben, Heuchlern oder Tröpfen bestehe: immer wieder sagte ihm
seine unbestechliche Erinnerung, daß er auch ehrliche, geradsinnige
und verständige Leute darin gefunden habe, und daß das nächste
Opfer ihrer Raubzüge zu diesen gehören könne. Und diese lichten Er¬
innerungen und Eindrücke verbanden sich bei ihm mit einer Religion,
die ihn in dem friedlich-frommen Kreise seiner Mutter mit dem
unvertilgbaren Bewußtsein erfüllt hatte, daß, wenn auch in der Bibel
und von ihren besten Helden gestohlen, geraubt und gemordet werde,
daß, wenn auch eine christliche Obrigkeit sich für die Führung ihres
Racheschwertes auf die Bibel berufe, doch der wahrhaft gute Mensch
einen Abscheu davor haben müsse, das Eigenthum seines Nächsten an¬
zutasten oder, unter welchem Vorwande es auch sei, sein Blut zu
vergießen.

Aber die innere Erkenntniß des Menschen hat ohne eine Unter¬
stützung von außen nicht so leicht die Gewalt, sein äußeres Leben
augenblicklich umzugestalten, schon deßhalb nicht, weil seinen schönsten
und edelsten Empfindungen immer wieder die menschliche Schwachheit
sich anhängt, und weil er die besten Vorsätze sehr oft in Stunden
äußerer Noth und Bedrängniß faßt, so daß, wenn diese vorüber sind,
das frohe Gefühl des Glückswechsels ihm auch den guten Vorsatz nur
als ein Erzeugniß der schwachen Stunde erscheinen läßt. Hiefür liefert
gerade die Geschichte der Offenburger Verhaftung, wie sie Schwan
ohne den religiösen Zwischenvorgang zu den Acten gegeben hat, einen
so deutlichen Beleg, daß dieselbe, die auch sonst merkwürdige Züge
darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verschiedenen
Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachlässigen Obrig¬
keiten, welche sich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Ge¬
sellschaft so schlecht angelegen sein ließen, daß diejenigen, die dem
Markgrafen von Baden ihre etwaigen Gefangenen um Geld verkauf¬
ten, noch weitaus zu den besseren gehörten, hatte das Paar den Un¬
stern, auf dem Jahrmarkte zu Offenburg in seinen Geschäften durch

ſucht. Gerade hierin aber lag zwiſchen ihr und dem nicht von Kindes¬
beinen an, ſondern erſt in ſpäteren Jahren ausgeſtoßenen Sohne des
herrſchenden Volkes ein Gegenſatz, der immer eine Kluft zwiſchen ihnen
offen erhalten mußte. Zehnmal mochte er ihr in den Stunden der
Leidenſchaft beiſtimmen, daß die Geſellſchaft, die er verlaſſen, aus lauter
Spitzbuben, Heuchlern oder Tröpfen beſtehe: immer wieder ſagte ihm
ſeine unbeſtechliche Erinnerung, daß er auch ehrliche, geradſinnige
und verſtändige Leute darin gefunden habe, und daß das nächſte
Opfer ihrer Raubzüge zu dieſen gehören könne. Und dieſe lichten Er¬
innerungen und Eindrücke verbanden ſich bei ihm mit einer Religion,
die ihn in dem friedlich-frommen Kreiſe ſeiner Mutter mit dem
unvertilgbaren Bewußtſein erfüllt hatte, daß, wenn auch in der Bibel
und von ihren beſten Helden geſtohlen, geraubt und gemordet werde,
daß, wenn auch eine chriſtliche Obrigkeit ſich für die Führung ihres
Racheſchwertes auf die Bibel berufe, doch der wahrhaft gute Menſch
einen Abſcheu davor haben müſſe, das Eigenthum ſeines Nächſten an¬
zutaſten oder, unter welchem Vorwande es auch ſei, ſein Blut zu
vergießen.

Aber die innere Erkenntniß des Menſchen hat ohne eine Unter¬
ſtützung von außen nicht ſo leicht die Gewalt, ſein äußeres Leben
augenblicklich umzugeſtalten, ſchon deßhalb nicht, weil ſeinen ſchönſten
und edelſten Empfindungen immer wieder die menſchliche Schwachheit
ſich anhängt, und weil er die beſten Vorſätze ſehr oft in Stunden
äußerer Noth und Bedrängniß faßt, ſo daß, wenn dieſe vorüber ſind,
das frohe Gefühl des Glückswechſels ihm auch den guten Vorſatz nur
als ein Erzeugniß der ſchwachen Stunde erſcheinen läßt. Hiefür liefert
gerade die Geſchichte der Offenburger Verhaftung, wie ſie Schwan
ohne den religiöſen Zwiſchenvorgang zu den Acten gegeben hat, einen
ſo deutlichen Beleg, daß dieſelbe, die auch ſonſt merkwürdige Züge
darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verſchiedenen
Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachläſſigen Obrig¬
keiten, welche ſich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft ſo ſchlecht angelegen ſein ließen, daß diejenigen, die dem
Markgrafen von Baden ihre etwaigen Gefangenen um Geld verkauf¬
ten, noch weitaus zu den beſſeren gehörten, hatte das Paar den Un¬
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[462/0478] ſucht. Gerade hierin aber lag zwiſchen ihr und dem nicht von Kindes¬ beinen an, ſondern erſt in ſpäteren Jahren ausgeſtoßenen Sohne des herrſchenden Volkes ein Gegenſatz, der immer eine Kluft zwiſchen ihnen offen erhalten mußte. Zehnmal mochte er ihr in den Stunden der Leidenſchaft beiſtimmen, daß die Geſellſchaft, die er verlaſſen, aus lauter Spitzbuben, Heuchlern oder Tröpfen beſtehe: immer wieder ſagte ihm ſeine unbeſtechliche Erinnerung, daß er auch ehrliche, geradſinnige und verſtändige Leute darin gefunden habe, und daß das nächſte Opfer ihrer Raubzüge zu dieſen gehören könne. Und dieſe lichten Er¬ innerungen und Eindrücke verbanden ſich bei ihm mit einer Religion, die ihn in dem friedlich-frommen Kreiſe ſeiner Mutter mit dem unvertilgbaren Bewußtſein erfüllt hatte, daß, wenn auch in der Bibel und von ihren beſten Helden geſtohlen, geraubt und gemordet werde, daß, wenn auch eine chriſtliche Obrigkeit ſich für die Führung ihres Racheſchwertes auf die Bibel berufe, doch der wahrhaft gute Menſch einen Abſcheu davor haben müſſe, das Eigenthum ſeines Nächſten an¬ zutaſten oder, unter welchem Vorwande es auch ſei, ſein Blut zu vergießen. Aber die innere Erkenntniß des Menſchen hat ohne eine Unter¬ ſtützung von außen nicht ſo leicht die Gewalt, ſein äußeres Leben augenblicklich umzugeſtalten, ſchon deßhalb nicht, weil ſeinen ſchönſten und edelſten Empfindungen immer wieder die menſchliche Schwachheit ſich anhängt, und weil er die beſten Vorſätze ſehr oft in Stunden äußerer Noth und Bedrängniß faßt, ſo daß, wenn dieſe vorüber ſind, das frohe Gefühl des Glückswechſels ihm auch den guten Vorſatz nur als ein Erzeugniß der ſchwachen Stunde erſcheinen läßt. Hiefür liefert gerade die Geſchichte der Offenburger Verhaftung, wie ſie Schwan ohne den religiöſen Zwiſchenvorgang zu den Acten gegeben hat, einen ſo deutlichen Beleg, daß dieſelbe, die auch ſonſt merkwürdige Züge darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verſchiedenen Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachläſſigen Obrig¬ keiten, welche ſich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Ge¬ ſellſchaft ſo ſchlecht angelegen ſein ließen, daß diejenigen, die dem Markgrafen von Baden ihre etwaigen Gefangenen um Geld verkauf¬ ten, noch weitaus zu den beſſeren gehörten, hatte das Paar den Un¬ ſtern, auf dem Jahrmarkte zu Offenburg in ſeinen Geſchäften durch

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/478>, abgerufen am 22.11.2024.