aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet, ist Niemand die Treue schuldig, die sie der Menschheit und sich selbst nicht hält. Aber es handelt sich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in so günstiger Beleuchtung aufzustellen, daß der geschmeichelte Leser darin seine eigene Menschenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr soll dieses Menschenleben mit seinen Lichtern und Schatten, mit seinen Ehrenzeichen und Schand¬ malen ein Gleichniß sein, in welchem Jeder sich als gut und bös erkennen mag. Denn fremd kann dem Menschen nichts bleiben was menschlich ist. Die wilden Thiere, welche seine Mitwelt in diesem Menschen sah, sie hausen alle in unserer Brust, und alle haben wir am Bache des Ebers getrunken. Wir verabscheuen das Stehlen, Rau¬ ben und Morden, aber auch er hat es verabscheut, und nicht erst nach der That; und, sei es in den Bußliedern frommer Zerknirschung oder in der Alltagssprache, müssen wir uns schuldig bekennen, daß wir oft unserm Nächsten das volle Loth, das ihm gebührte, nicht zugewogen, daß wir sein Menschenrecht gekränkt, sein Menschenherz verletzt haben. Wer die Buße dieses Verbrechers als einen Ausfluß der Geistesgröße bewundert, wird sich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß es besser ist einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar Verrath an den Genossen enden muß; und wer sie als die Schwäche eines in der Bildung verwahrlosten Geistes, den seine Zeit keinen Lessing werden ließ, ansieht, der mag sich sagen, daß auch der unabhängigste Denker im Vollgefühle seiner Freiheit über Begriffe straucheln kann, die er mit der Muttermilch eingesogen hat. Keiner steht so hoch, daß er nicht fallen kann, und das einseitige Wort der Menschenliebe und Menschen¬ würde in jenem Buche, worin sich die Sehnsucht des Morgenlandes mit dem Geiste unsrer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, ist höher als Alle. Der Kampf des Sünders, von welchem seine Kirche eine werk¬ thätige Reue forderte, die sich nicht einmal um den Preis des eigenen Lebens abfinden durfte, war groß und schwer. Dieses zertrümmerte Lebensschiff hatte er mit raschem Entschlusse preisgegeben, und doch kam ihn auch bei dieser Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im Einzelnen sauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf kosteten, gingen ihm ohne Widerstreben über die Zunge; aber die kleineren Vergehen suchte er so lange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht vor einer schwereren Todesstrafe, wie er nachher behaupten wollte, in
aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet, iſt Niemand die Treue ſchuldig, die ſie der Menſchheit und ſich ſelbſt nicht hält. Aber es handelt ſich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in ſo günſtiger Beleuchtung aufzuſtellen, daß der geſchmeichelte Leſer darin ſeine eigene Menſchenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr ſoll dieſes Menſchenleben mit ſeinen Lichtern und Schatten, mit ſeinen Ehrenzeichen und Schand¬ malen ein Gleichniß ſein, in welchem Jeder ſich als gut und bös erkennen mag. Denn fremd kann dem Menſchen nichts bleiben was menſchlich iſt. Die wilden Thiere, welche ſeine Mitwelt in dieſem Menſchen ſah, ſie hauſen alle in unſerer Bruſt, und alle haben wir am Bache des Ebers getrunken. Wir verabſcheuen das Stehlen, Rau¬ ben und Morden, aber auch er hat es verabſcheut, und nicht erſt nach der That; und, ſei es in den Bußliedern frommer Zerknirſchung oder in der Alltagsſprache, müſſen wir uns ſchuldig bekennen, daß wir oft unſerm Nächſten das volle Loth, das ihm gebührte, nicht zugewogen, daß wir ſein Menſchenrecht gekränkt, ſein Menſchenherz verletzt haben. Wer die Buße dieſes Verbrechers als einen Ausfluß der Geiſtesgröße bewundert, wird ſich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß es beſſer iſt einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar Verrath an den Genoſſen enden muß; und wer ſie als die Schwäche eines in der Bildung verwahrloſten Geiſtes, den ſeine Zeit keinen Leſſing werden ließ, anſieht, der mag ſich ſagen, daß auch der unabhängigſte Denker im Vollgefühle ſeiner Freiheit über Begriffe ſtraucheln kann, die er mit der Muttermilch eingeſogen hat. Keiner ſteht ſo hoch, daß er nicht fallen kann, und das einſeitige Wort der Menſchenliebe und Menſchen¬ würde in jenem Buche, worin ſich die Sehnſucht des Morgenlandes mit dem Geiſte unſrer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, iſt höher als Alle. Der Kampf des Sünders, von welchem ſeine Kirche eine werk¬ thätige Reue forderte, die ſich nicht einmal um den Preis des eigenen Lebens abfinden durfte, war groß und ſchwer. Dieſes zertrümmerte Lebensſchiff hatte er mit raſchem Entſchluſſe preisgegeben, und doch kam ihn auch bei dieſer Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im Einzelnen ſauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf koſteten, gingen ihm ohne Widerſtreben über die Zunge; aber die kleineren Vergehen ſuchte er ſo lange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht vor einer ſchwereren Todesſtrafe, wie er nachher behaupten wollte, in
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0484"n="468"/>
aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet,<lb/>
iſt Niemand die Treue ſchuldig, die ſie der Menſchheit und ſich ſelbſt nicht hält.<lb/>
Aber es handelt ſich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in ſo günſtiger<lb/>
Beleuchtung aufzuſtellen, daß der geſchmeichelte Leſer darin ſeine eigene<lb/>
Menſchenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr ſoll dieſes Menſchenleben<lb/>
mit ſeinen Lichtern und Schatten, mit ſeinen Ehrenzeichen und Schand¬<lb/>
malen ein Gleichniß ſein, in welchem Jeder ſich als gut und bös<lb/>
erkennen mag. Denn fremd kann dem Menſchen nichts bleiben was<lb/>
menſchlich iſt. Die wilden Thiere, welche ſeine Mitwelt in dieſem<lb/>
Menſchen ſah, ſie hauſen alle in unſerer Bruſt, und alle haben wir<lb/>
am Bache des Ebers getrunken. Wir verabſcheuen das Stehlen, Rau¬<lb/>
ben und Morden, aber auch er hat es verabſcheut, und nicht erſt nach<lb/>
der That; und, ſei es in den Bußliedern frommer Zerknirſchung oder<lb/>
in der Alltagsſprache, müſſen wir uns ſchuldig bekennen, daß wir<lb/>
oft unſerm Nächſten das volle Loth, das ihm gebührte, nicht zugewogen,<lb/>
daß wir ſein Menſchenrecht gekränkt, ſein Menſchenherz verletzt haben.<lb/>
Wer die Buße dieſes Verbrechers als einen Ausfluß der Geiſtesgröße<lb/>
bewundert, wird ſich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß<lb/>
es beſſer iſt einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar<lb/>
Verrath an den Genoſſen enden muß; und wer ſie als die Schwäche<lb/>
eines in der Bildung verwahrloſten Geiſtes, den ſeine Zeit keinen<lb/>
Leſſing werden ließ, anſieht, der mag ſich ſagen, daß auch der unabhängigſte<lb/>
Denker im Vollgefühle ſeiner Freiheit über Begriffe ſtraucheln kann,<lb/>
die er mit der Muttermilch eingeſogen hat. Keiner ſteht ſo hoch, daß er<lb/>
nicht fallen kann, und das einſeitige Wort der Menſchenliebe und Menſchen¬<lb/>
würde in jenem Buche, worin ſich die Sehnſucht des Morgenlandes mit dem<lb/>
Geiſte unſrer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, iſt höher als Alle.<lb/>
Der Kampf des Sünders, von welchem ſeine Kirche eine werk¬<lb/>
thätige Reue forderte, die ſich nicht einmal um den Preis des eigenen<lb/>
Lebens abfinden durfte, war groß und ſchwer. Dieſes zertrümmerte<lb/>
Lebensſchiff hatte er mit raſchem Entſchluſſe preisgegeben, und doch<lb/>
kam ihn auch bei dieſer Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im<lb/>
Einzelnen ſauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf koſteten,<lb/>
gingen ihm ohne Widerſtreben über die Zunge; aber die kleineren<lb/>
Vergehen ſuchte er ſo lange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht<lb/>
vor einer ſchwereren Todesſtrafe, wie er nachher behaupten wollte, in<lb/></p></div></body></text></TEI>
[468/0484]
aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet,
iſt Niemand die Treue ſchuldig, die ſie der Menſchheit und ſich ſelbſt nicht hält.
Aber es handelt ſich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in ſo günſtiger
Beleuchtung aufzuſtellen, daß der geſchmeichelte Leſer darin ſeine eigene
Menſchenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr ſoll dieſes Menſchenleben
mit ſeinen Lichtern und Schatten, mit ſeinen Ehrenzeichen und Schand¬
malen ein Gleichniß ſein, in welchem Jeder ſich als gut und bös
erkennen mag. Denn fremd kann dem Menſchen nichts bleiben was
menſchlich iſt. Die wilden Thiere, welche ſeine Mitwelt in dieſem
Menſchen ſah, ſie hauſen alle in unſerer Bruſt, und alle haben wir
am Bache des Ebers getrunken. Wir verabſcheuen das Stehlen, Rau¬
ben und Morden, aber auch er hat es verabſcheut, und nicht erſt nach
der That; und, ſei es in den Bußliedern frommer Zerknirſchung oder
in der Alltagsſprache, müſſen wir uns ſchuldig bekennen, daß wir
oft unſerm Nächſten das volle Loth, das ihm gebührte, nicht zugewogen,
daß wir ſein Menſchenrecht gekränkt, ſein Menſchenherz verletzt haben.
Wer die Buße dieſes Verbrechers als einen Ausfluß der Geiſtesgröße
bewundert, wird ſich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß
es beſſer iſt einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar
Verrath an den Genoſſen enden muß; und wer ſie als die Schwäche
eines in der Bildung verwahrloſten Geiſtes, den ſeine Zeit keinen
Leſſing werden ließ, anſieht, der mag ſich ſagen, daß auch der unabhängigſte
Denker im Vollgefühle ſeiner Freiheit über Begriffe ſtraucheln kann,
die er mit der Muttermilch eingeſogen hat. Keiner ſteht ſo hoch, daß er
nicht fallen kann, und das einſeitige Wort der Menſchenliebe und Menſchen¬
würde in jenem Buche, worin ſich die Sehnſucht des Morgenlandes mit dem
Geiſte unſrer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, iſt höher als Alle.
Der Kampf des Sünders, von welchem ſeine Kirche eine werk¬
thätige Reue forderte, die ſich nicht einmal um den Preis des eigenen
Lebens abfinden durfte, war groß und ſchwer. Dieſes zertrümmerte
Lebensſchiff hatte er mit raſchem Entſchluſſe preisgegeben, und doch
kam ihn auch bei dieſer Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im
Einzelnen ſauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf koſteten,
gingen ihm ohne Widerſtreben über die Zunge; aber die kleineren
Vergehen ſuchte er ſo lange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht
vor einer ſchwereren Todesſtrafe, wie er nachher behaupten wollte, in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/484>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.