Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.1. Es war ein schöner, stiller Aprilmorgen, still wie er nur im Deutschland der zwanziger Jahre, in welches wir uns hiermit zurückversetzen, und in einem einsamen hochgelegenen schwäbischen Bergdörfchen gedacht werden kann. Am Fenster seines Pfarrhauses stand der Pfarrer von A . . . berg, der zu dieser Stunde seiner vieljährigen und alltäglichen Morgenbeschäftigung oblag. Er sah nämlich spazieren, indem er einen langen Tubus vor das Auge hielt und über die Ferne hin und her bewegte. Derselbe war weder ein Dollond noch ein Frauenhofer, sondern ein selbstverfertigtes Rohr aus steifem Papier, worin er die teleskopischen Gläser nach freundschaftlicher Anleitung des berühmten Mechanikus Butzengeiger in T......., der sein Vetter war, eingesetzt hatte. Dieses Spar-Fernrohr bildete neben seinem Sohne Wilhelm, von dessen Entwicklung er sich Wunderdinge versprach, seinen größten Stolz und, wie schon gesagt, seine tägliche Morgenergötzlichkeit. Es trug wohl zwanzig Stunden weit und ließ in der Landschaft die wellenförmigen Hügelreihen, die dichtgesäeten Dörfer mit den blinkenden Kirchenthürmen, in den Bergen aber, die sich links und rechts in langer Front an den hohen Standpunkt unseres Beobachters anschloßen, die verstecktesten Thaleinschnitte, die abge- 1. Es war ein schöner, stiller Aprilmorgen, still wie er nur im Deutschland der zwanziger Jahre, in welches wir uns hiermit zurückversetzen, und in einem einsamen hochgelegenen schwäbischen Bergdörfchen gedacht werden kann. Am Fenster seines Pfarrhauses stand der Pfarrer von A . . . berg, der zu dieser Stunde seiner vieljährigen und alltäglichen Morgenbeschäftigung oblag. Er sah nämlich spazieren, indem er einen langen Tubus vor das Auge hielt und über die Ferne hin und her bewegte. Derselbe war weder ein Dollond noch ein Frauenhofer, sondern ein selbstverfertigtes Rohr aus steifem Papier, worin er die teleskopischen Gläser nach freundschaftlicher Anleitung des berühmten Mechanikus Butzengeiger in T......., der sein Vetter war, eingesetzt hatte. Dieses Spar-Fernrohr bildete neben seinem Sohne Wilhelm, von dessen Entwicklung er sich Wunderdinge versprach, seinen größten Stolz und, wie schon gesagt, seine tägliche Morgenergötzlichkeit. Es trug wohl zwanzig Stunden weit und ließ in der Landschaft die wellenförmigen Hügelreihen, die dichtgesäeten Dörfer mit den blinkenden Kirchenthürmen, in den Bergen aber, die sich links und rechts in langer Front an den hohen Standpunkt unseres Beobachters anschloßen, die verstecktesten Thaleinschnitte, die abge- <TEI> <text> <pb facs="#f0011"/> <body> <div type="chapter" n="1"> <head>1.</head> <p>Es war ein schöner, stiller Aprilmorgen, still wie er nur im Deutschland der zwanziger Jahre, in welches wir uns hiermit zurückversetzen, und in einem einsamen hochgelegenen schwäbischen Bergdörfchen gedacht werden kann.</p><lb/> <p>Am Fenster seines Pfarrhauses stand der Pfarrer von A . . . berg, der zu dieser Stunde seiner vieljährigen und alltäglichen Morgenbeschäftigung oblag. Er sah nämlich spazieren, indem er einen langen Tubus vor das Auge hielt und über die Ferne hin und her bewegte. Derselbe war weder ein Dollond noch ein Frauenhofer, sondern ein selbstverfertigtes Rohr aus steifem Papier, worin er die teleskopischen Gläser nach freundschaftlicher Anleitung des berühmten Mechanikus Butzengeiger in T......., der sein Vetter war, eingesetzt hatte. Dieses Spar-Fernrohr bildete neben seinem Sohne Wilhelm, von dessen Entwicklung er sich Wunderdinge versprach, seinen größten Stolz und, wie schon gesagt, seine tägliche Morgenergötzlichkeit. Es trug wohl zwanzig Stunden weit und ließ in der Landschaft die wellenförmigen Hügelreihen, die dichtgesäeten Dörfer mit den blinkenden Kirchenthürmen, in den Bergen aber, die sich links und rechts in langer Front an den hohen Standpunkt unseres Beobachters anschloßen, die verstecktesten Thaleinschnitte, die abge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
1. Es war ein schöner, stiller Aprilmorgen, still wie er nur im Deutschland der zwanziger Jahre, in welches wir uns hiermit zurückversetzen, und in einem einsamen hochgelegenen schwäbischen Bergdörfchen gedacht werden kann.
Am Fenster seines Pfarrhauses stand der Pfarrer von A . . . berg, der zu dieser Stunde seiner vieljährigen und alltäglichen Morgenbeschäftigung oblag. Er sah nämlich spazieren, indem er einen langen Tubus vor das Auge hielt und über die Ferne hin und her bewegte. Derselbe war weder ein Dollond noch ein Frauenhofer, sondern ein selbstverfertigtes Rohr aus steifem Papier, worin er die teleskopischen Gläser nach freundschaftlicher Anleitung des berühmten Mechanikus Butzengeiger in T......., der sein Vetter war, eingesetzt hatte. Dieses Spar-Fernrohr bildete neben seinem Sohne Wilhelm, von dessen Entwicklung er sich Wunderdinge versprach, seinen größten Stolz und, wie schon gesagt, seine tägliche Morgenergötzlichkeit. Es trug wohl zwanzig Stunden weit und ließ in der Landschaft die wellenförmigen Hügelreihen, die dichtgesäeten Dörfer mit den blinkenden Kirchenthürmen, in den Bergen aber, die sich links und rechts in langer Front an den hohen Standpunkt unseres Beobachters anschloßen, die verstecktesten Thaleinschnitte, die abge-
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