Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite
§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegensatz dazu hat sich die Anschauung geltend gemacht,
daß den einzelnen Deutschen Staaten als staatsrechtliche Sozietät
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zusteht. Zu gemeinschaftlicher
Ausübung bestimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete
zustehender Befugnisse seien sie einen Bund eingegangen und die
Reichsgewalt stehe ihnen daher gemeinschaftlich zu nach Art des
Condominium pro indiviso oder der Ganerbschaft 1). Diese
Theorie leugnet überhaupt den staatlichen Charakter des Reiches
und die Selbstständigkeit der dem Reiche zustehenden Hoheitsrechte.
Für die Einzelstaaten ist sie nur scheinbar günstiger, denn die
Rechte der Einzelstaaten sind ihrem Inhalte nach keine größeren,
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-
zietät oder wenn man sie als Mitglieder einer juristischen Per-
son denkt.

Jede juristische Person ist nun aber an sich willens- und
handlungsunfähig; sie bedarf eines Vertreters, sie bedarf willens-
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Person gelten. Dies
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch
ergiebt sich die Nothwendigkeit eines Trägers der staatlichen Ge-
walt, der an und für sich (von Natur) willens- und handlungs-
fähig ist. Auch dieser Träger der Staatsgewalt wird "Souverän"
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Person zustehende
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unsere Kulturperiode
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieser Träger
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch sein, oder
die Gesammtheit aller Mitglieder des Staates.

Im Deutschen Reich ist das letztere Prinzip adoptirt. Das

staates gemäß, als Grundlage "das in den Einzelstaaten gruppirte (Nord)-
Deutsche Volk an." Nach unserer Auffassung ist das deutsche Volk allerdings
das letzte natürliche Substrat, jedoch zunächst und unmittelbar nur für die
Einzelstaaten und erst diese, als öffentlichrechtliche Personen sind das Substrat
des Reiches. An v. Gerber schließt sich fast wörtlich an v. Rönne S. 29,
jedoch mit dem komischen Mißverständniß, daß er die Einzelstaaten des Reiches
"als natürliche Grundlage des Deutschen Volkes" (!) erklärt. Vgl. ferner v.
Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.
1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des
Reiches mit der Zusammenlegung mehrerer, verschiedenen Personen gehörigen
Grundstücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.
§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.

Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht,
daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher
Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete
zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die
Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des
Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft 1). Dieſe
Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches
und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte.
Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die
Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren,
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-
zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per-
ſon denkt.

Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens- und
handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens-
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch
ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge-
walt, der an und für ſich (von Natur) willens- und handlungs-
fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder
die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates.

Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das

ſtaates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord)-
Deutſche Volk an.“ Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings
das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die
Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat
des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29,
jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches
„als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v.
Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.
1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des
Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen
Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0107" n="87"/>
          <fw place="top" type="header">§. 9. Das Subject der Reichsgewalt.</fw><lb/>
          <p>Im Gegen&#x017F;atz dazu hat &#x017F;ich die An&#x017F;chauung geltend gemacht,<lb/>
daß den einzelnen Deut&#x017F;chen Staaten als &#x017F;taatsrechtliche Sozietät<lb/>
verbunden gedacht, die Reichsgewalt zu&#x017F;teht. Zu gemein&#x017F;chaftlicher<lb/>
Ausübung be&#x017F;timmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete<lb/>
zu&#x017F;tehender Befugni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;eien &#x017F;ie einen Bund eingegangen und die<lb/>
Reichsgewalt &#x017F;tehe ihnen daher gemein&#x017F;chaftlich zu nach Art des<lb/><hi rendition="#aq">Condominium pro indiviso</hi> oder der Ganerb&#x017F;chaft <note place="foot" n="1)">So namentlich <hi rendition="#g">Seydel</hi> Commentar S. 89, der die Bildung des<lb/>
Reiches mit der Zu&#x017F;ammenlegung mehrerer, ver&#x017F;chiedenen Per&#x017F;onen gehörigen<lb/>
Grund&#x017F;tücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht.</note>. Die&#x017F;e<lb/>
Theorie leugnet überhaupt den &#x017F;taatlichen Charakter des Reiches<lb/>
und die Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit der dem Reiche zu&#x017F;tehenden Hoheitsrechte.<lb/>
Für die Einzel&#x017F;taaten i&#x017F;t &#x017F;ie nur &#x017F;cheinbar gün&#x017F;tiger, denn die<lb/>
Rechte der Einzel&#x017F;taaten &#x017F;ind ihrem Inhalte nach keine größeren,<lb/>
wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So-<lb/>
zietät oder wenn man &#x017F;ie als Mitglieder einer juri&#x017F;ti&#x017F;chen Per-<lb/>
&#x017F;on denkt.</p><lb/>
          <p>Jede juri&#x017F;ti&#x017F;che Per&#x017F;on i&#x017F;t nun aber an &#x017F;ich willens- und<lb/>
handlungsunfähig; &#x017F;ie bedarf eines Vertreters, &#x017F;ie bedarf willens-<lb/>
und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand-<lb/>
lungen als Wille und Rechtshandlungen der Per&#x017F;on gelten. Dies<lb/>
gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch<lb/>
ergiebt &#x017F;ich die Nothwendigkeit eines Trägers der &#x017F;taatlichen Ge-<lb/>
walt, der an und für &#x017F;ich (von Natur) willens- und handlungs-<lb/>
fähig i&#x017F;t. Auch die&#x017F;er Träger der Staatsgewalt wird &#x201E;Souverän&#x201C;<lb/>
genannt, indem er die dem Staat als gedachte Per&#x017F;on zu&#x017F;tehende<lb/>
rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für un&#x017F;ere Kulturperiode<lb/>
allein in Betracht kommenden Staatsformen kann die&#x017F;er Träger<lb/>
der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch &#x017F;ein, oder<lb/>
die Ge&#x017F;ammtheit aller Mitglieder des Staates.</p><lb/>
          <p>Im Deut&#x017F;chen Reich i&#x017F;t das <hi rendition="#g">letztere</hi> Prinzip adoptirt. Das<lb/><note xml:id="seg2pn_11_2" prev="#seg2pn_11_1" place="foot" n="3)">&#x017F;taates gemäß, als Grundlage &#x201E;das in den Einzel&#x017F;taaten gruppirte (Nord)-<lb/>
Deut&#x017F;che Volk an.&#x201C; Nach un&#x017F;erer Auffa&#x017F;&#x017F;ung i&#x017F;t das deut&#x017F;che Volk allerdings<lb/>
das letzte natürliche Sub&#x017F;trat, jedoch zunäch&#x017F;t und unmittelbar nur für die<lb/>
Einzel&#x017F;taaten und er&#x017F;t die&#x017F;e, als öffentlichrechtliche Per&#x017F;onen &#x017F;ind das Sub&#x017F;trat<lb/>
des Reiches. An v. <hi rendition="#g">Gerber</hi> &#x017F;chließt &#x017F;ich fa&#x017F;t wörtlich an v. <hi rendition="#g">Rönne</hi> S. 29,<lb/>
jedoch mit dem komi&#x017F;chen Mißver&#x017F;tändniß, daß er die Einzel&#x017F;taaten des Reiches<lb/>
&#x201E;als natürliche Grundlage des Deut&#x017F;chen Volkes&#x201C; (!) erklärt. Vgl. ferner v.<lb/><hi rendition="#g">Held</hi> Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0107] §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Im Gegenſatz dazu hat ſich die Anſchauung geltend gemacht, daß den einzelnen Deutſchen Staaten als ſtaatsrechtliche Sozietät verbunden gedacht, die Reichsgewalt zuſteht. Zu gemeinſchaftlicher Ausübung beſtimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete zuſtehender Befugniſſe ſeien ſie einen Bund eingegangen und die Reichsgewalt ſtehe ihnen daher gemeinſchaftlich zu nach Art des Condominium pro indiviso oder der Ganerbſchaft 1). Dieſe Theorie leugnet überhaupt den ſtaatlichen Charakter des Reiches und die Selbſtſtändigkeit der dem Reiche zuſtehenden Hoheitsrechte. Für die Einzelſtaaten iſt ſie nur ſcheinbar günſtiger, denn die Rechte der Einzelſtaaten ſind ihrem Inhalte nach keine größeren, wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So- zietät oder wenn man ſie als Mitglieder einer juriſtiſchen Per- ſon denkt. Jede juriſtiſche Perſon iſt nun aber an ſich willens- und handlungsunfähig; ſie bedarf eines Vertreters, ſie bedarf willens- und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand- lungen als Wille und Rechtshandlungen der Perſon gelten. Dies gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch ergiebt ſich die Nothwendigkeit eines Trägers der ſtaatlichen Ge- walt, der an und für ſich (von Natur) willens- und handlungs- fähig iſt. Auch dieſer Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“ genannt, indem er die dem Staat als gedachte Perſon zuſtehende rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unſere Kulturperiode allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieſer Träger der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch ſein, oder die Geſammtheit aller Mitglieder des Staates. Im Deutſchen Reich iſt das letztere Prinzip adoptirt. Das 3) 1) So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des Reiches mit der Zuſammenlegung mehrerer, verſchiedenen Perſonen gehörigen Grundſtücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht. 3) ſtaates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelſtaaten gruppirte (Nord)- Deutſche Volk an.“ Nach unſerer Auffaſſung iſt das deutſche Volk allerdings das letzte natürliche Subſtrat, jedoch zunächſt und unmittelbar nur für die Einzelſtaaten und erſt dieſe, als öffentlichrechtliche Perſonen ſind das Subſtrat des Reiches. An v. Gerber ſchließt ſich faſt wörtlich an v. Rönne S. 29, jedoch mit dem komiſchen Mißverſtändniß, daß er die Einzelſtaaten des Reiches „als natürliche Grundlage des Deutſchen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v. Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/107
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/107>, abgerufen am 21.11.2024.