Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.
§. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. wendbar ist 1). Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daßdasselbe gewöhnlich solche Regeln bildet, welche in allen Fällen An- wendung finden sollen, in denen ein bestimmter Thatbestand ge- geben ist, und da das Gesetz eine Rechtsquelle ist, so hat es ge- wöhnlich, dieser Natur des Rechtes entsprechend, einen allgemeinen Rechtssatz zum Inhalt. Allein dies ist eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Gesetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des Gesetzes ist es völlig vereinbar, daß dasselbe einen Rechtssatz auf- stellt, der nur auf einen einzigen Thatbestand anwendbar ist, oder nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt 2). Für ein Gesetz dieser Art hat die römische Rechtssprache einen besonderen technischen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß sich deckt, hat man das Wort auch auf das subjektive Recht angewen- det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet wird. Die Sprache hat sich dann des Wortes bemächtigt, um jede Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszustande, jede dem ius singulare angehörende Rechtsvorschrift und jede durch ius singulare begründete subjective Berechtigung zu bezeichnen 3). Der Deutschen Rechtssprache fehlt das Gefühl für den ur- 1) Dies ist freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. Zachariä, Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl, Staatsr. II. §. 430. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172. 2) Alsdann kann im praktischen Erfolge die Regelung dieses Rechtsver- hältnisses durch Gesetz der Begründung des Rechtsverhältnisses durch Rechts- geschäft sehr nahe kommen, grade so, wie bei dem sogen. Herkommen es oft schwer zu unterscheiden ist, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält- nisses durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines Rechtsverhältnisses durch Ersitzung, also mit objectivem oder subjectivem Recht, zu thun hat. Man muß aber festhalten, daß an und für sich Beides möglich ist. 3) Ueber die Bedeutungen des Wortes im Corpus iuris von Justinian
vgl. v. Savigny, System I. S. 62, von Wächter, Würtb. Privatr. II. 1. S. 16. §. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes. wendbar iſt 1). Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daßdaſſelbe gewöhnlich ſolche Regeln bildet, welche in allen Fällen An- wendung finden ſollen, in denen ein beſtimmter Thatbeſtand ge- geben iſt, und da das Geſetz eine Rechtsquelle iſt, ſo hat es ge- wöhnlich, dieſer Natur des Rechtes entſprechend, einen allgemeinen Rechtsſatz zum Inhalt. Allein dies iſt eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Geſetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des Geſetzes iſt es völlig vereinbar, daß daſſelbe einen Rechtsſatz auf- ſtellt, der nur auf einen einzigen Thatbeſtand anwendbar iſt, oder nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt 2). Für ein Geſetz dieſer Art hat die römiſche Rechtsſprache einen beſonderen techniſchen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß ſich deckt, hat man das Wort auch auf das ſubjektive Recht angewen- det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet wird. Die Sprache hat ſich dann des Wortes bemächtigt, um jede Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszuſtande, jede dem ius singulare angehörende Rechtsvorſchrift und jede durch ius singulare begründete ſubjective Berechtigung zu bezeichnen 3). Der Deutſchen Rechtsſprache fehlt das Gefühl für den ur- 1) Dies iſt freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. Zachariä, Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl, Staatsr. II. §. 430. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172. 2) Alsdann kann im praktiſchen Erfolge die Regelung dieſes Rechtsver- hältniſſes durch Geſetz der Begründung des Rechtsverhältniſſes durch Rechts- geſchäft ſehr nahe kommen, grade ſo, wie bei dem ſogen. Herkommen es oft ſchwer zu unterſcheiden iſt, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält- niſſes durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines Rechtsverhältniſſes durch Erſitzung, alſo mit objectivem oder ſubjectivem Recht, zu thun hat. Man muß aber feſthalten, daß an und für ſich Beides möglich iſt. 3) Ueber die Bedeutungen des Wortes im Corpus iuris von Juſtinian
vgl. v. Savigny, Syſtem I. S. 62, von Wächter, Würtb. Privatr. II. 1. S. 16. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0016" n="2"/><fw place="top" type="header">§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.</fw><lb/> wendbar iſt <note place="foot" n="1)">Dies iſt freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. <hi rendition="#g">Zachariä</hi>,<lb/> Staatsr. <hi rendition="#aq">II.</hi> §. 155 (S. 140). <hi rendition="#g">Zöpfl</hi>, Staatsr. <hi rendition="#aq">II.</hi> §. 430. v. <hi rendition="#g">Rönne</hi>,<lb/> Preuß. Staatsr. <hi rendition="#aq">I.</hi> 1. S. 172.</note>. Zwar liegt es in der Natur des <hi rendition="#g">Rechts</hi>, daß<lb/> daſſelbe gewöhnlich ſolche Regeln bildet, welche in allen Fällen An-<lb/> wendung finden ſollen, in denen ein beſtimmter Thatbeſtand ge-<lb/> geben iſt, und da das Geſetz eine <hi rendition="#g">Rechtsq</hi>uelle iſt, ſo hat es ge-<lb/> wöhnlich, dieſer Natur des Rechtes entſprechend, einen allgemeinen<lb/> Rechtsſatz zum Inhalt. Allein dies iſt eben nur ein <hi rendition="#aq">Naturale,</hi><lb/> nicht ein <hi rendition="#aq">Essentiale</hi> des Geſetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des<lb/> Geſetzes iſt es völlig vereinbar, daß daſſelbe einen Rechtsſatz auf-<lb/> ſtellt, der nur auf einen einzigen Thatbeſtand anwendbar iſt, oder<lb/> nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt <note place="foot" n="2)">Alsdann kann im praktiſchen Erfolge die <hi rendition="#g">Regelung</hi> dieſes Rechtsver-<lb/> hältniſſes durch Geſetz der <hi rendition="#g">Begründung</hi> des Rechtsverhältniſſes durch Rechts-<lb/> geſchäft ſehr nahe kommen, grade ſo, wie bei dem ſogen. Herkommen es oft<lb/> ſchwer zu unterſcheiden iſt, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält-<lb/> niſſes durch locales <hi rendition="#g">Gewohnheitsrecht</hi> oder mit der Begründung eines<lb/> Rechtsverhältniſſes durch <hi rendition="#g">Erſitzung</hi>, alſo mit objectivem oder ſubjectivem<lb/> Recht, zu thun hat. Man muß aber feſthalten, daß an und für ſich Beides<lb/> möglich iſt.</note>. Für ein<lb/> Geſetz dieſer Art hat die römiſche Rechtsſprache einen beſonderen<lb/> techniſchen Namen; es heißt <hi rendition="#aq">privilegium.</hi> Grade weil aber hier<lb/> die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß ſich<lb/> deckt, hat man das Wort auch auf das ſubjektive Recht angewen-<lb/> det, welches durch die für den concreten Fall gegebene <hi rendition="#aq">lex</hi> begründet<lb/> wird. Die Sprache hat ſich dann des Wortes bemächtigt, um jede<lb/> Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszuſtande, jede dem <hi rendition="#aq">ius<lb/> singulare</hi> angehörende Rechtsvorſchrift und jede durch <hi rendition="#aq">ius singulare</hi><lb/> begründete ſubjective Berechtigung zu bezeichnen <note place="foot" n="3)">Ueber die Bedeutungen des Wortes im <hi rendition="#aq">Corpus iuris</hi> von Juſtinian<lb/> vgl. v. <hi rendition="#g">Savigny</hi>, Syſtem <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 62, <hi rendition="#g">von Wächter</hi>, Würtb. Privatr. <hi rendition="#aq">II.</hi> 1.<lb/> S. 16.</note>.</p><lb/> <p>Der Deutſchen Rechtsſprache fehlt das Gefühl für den ur-<lb/> ſprünglichen Sinn des fremden Wortes als einer beſonders gear-<lb/> teten <hi rendition="#aq">lex</hi> gänzlich; man verwendet es ſeit Jahrhunderten für jede<lb/> Art von ſubjectiven Befugniſſen, die nicht durch die allgemein gül-<lb/> tigen Rechtsvorſchriften von ſelbſt gegeben ſind, und für jeden Akt<lb/> der Staatsgewalt, durch welchen derartige Befugniſſe zur Ent-<lb/> ſtehung kommen können. Das Wort Privilegium entſpricht dem-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0016]
§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.
wendbar iſt 1). Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daß
daſſelbe gewöhnlich ſolche Regeln bildet, welche in allen Fällen An-
wendung finden ſollen, in denen ein beſtimmter Thatbeſtand ge-
geben iſt, und da das Geſetz eine Rechtsquelle iſt, ſo hat es ge-
wöhnlich, dieſer Natur des Rechtes entſprechend, einen allgemeinen
Rechtsſatz zum Inhalt. Allein dies iſt eben nur ein Naturale,
nicht ein Essentiale des Geſetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des
Geſetzes iſt es völlig vereinbar, daß daſſelbe einen Rechtsſatz auf-
ſtellt, der nur auf einen einzigen Thatbeſtand anwendbar iſt, oder
nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt 2). Für ein
Geſetz dieſer Art hat die römiſche Rechtsſprache einen beſonderen
techniſchen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier
die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß ſich
deckt, hat man das Wort auch auf das ſubjektive Recht angewen-
det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet
wird. Die Sprache hat ſich dann des Wortes bemächtigt, um jede
Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszuſtande, jede dem ius
singulare angehörende Rechtsvorſchrift und jede durch ius singulare
begründete ſubjective Berechtigung zu bezeichnen 3).
Der Deutſchen Rechtsſprache fehlt das Gefühl für den ur-
ſprünglichen Sinn des fremden Wortes als einer beſonders gear-
teten lex gänzlich; man verwendet es ſeit Jahrhunderten für jede
Art von ſubjectiven Befugniſſen, die nicht durch die allgemein gül-
tigen Rechtsvorſchriften von ſelbſt gegeben ſind, und für jeden Akt
der Staatsgewalt, durch welchen derartige Befugniſſe zur Ent-
ſtehung kommen können. Das Wort Privilegium entſpricht dem-
1) Dies iſt freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. Zachariä,
Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl, Staatsr. II. §. 430. v. Rönne,
Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172.
2) Alsdann kann im praktiſchen Erfolge die Regelung dieſes Rechtsver-
hältniſſes durch Geſetz der Begründung des Rechtsverhältniſſes durch Rechts-
geſchäft ſehr nahe kommen, grade ſo, wie bei dem ſogen. Herkommen es oft
ſchwer zu unterſcheiden iſt, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält-
niſſes durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines
Rechtsverhältniſſes durch Erſitzung, alſo mit objectivem oder ſubjectivem
Recht, zu thun hat. Man muß aber feſthalten, daß an und für ſich Beides
möglich iſt.
3) Ueber die Bedeutungen des Wortes im Corpus iuris von Juſtinian
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| Zitationshilfe: | Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/16>, abgerufen am 21.11.2024. |
