Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. widerstreiten, auch unter Erfüllung der für Verfassungsänderungenvorgeschriebenen Erfordernisse untersagt und unstatthaft ist, und ob Gesetze dieser Art, welche ohne vorhergehende verfassungsmäßig erfolgte Veränderung der Verfassungs-Urkunde erlassen worden sind, rechtlich wirkungslos seien. Diese Frage ist zu verneinen 1). Die in der Verfassung ent- 1) Sie ist in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be- jahung erklären sich: Hiersemenzel I. S. 35. 214. Beseler in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Westerkamp, S. 133 u. be- sonders v. Rönne, Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver- neinung haben sich ausgesprochen O. Bähr, in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28 S. 79, besonders Hänel, Studien I. S. 258. 2) Die Eigenschaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver- fassungsurkunde zu stützen pflegt, nämlich, daß sie "feierlich verbrieft", "mit der Volksvertretung vereinbart" sei und dgl., kommen ebenso allen anderen Gesetzen zu. 3) Vgl. z. B. v. Rönne, Staatsr. des Deutschen R. II. 1 S. 33. We-
sterkamp, S. 196 ff. u. v. a. §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung. widerſtreiten, auch unter Erfüllung der für Verfaſſungsänderungenvorgeſchriebenen Erforderniſſe unterſagt und unſtatthaft iſt, und ob Geſetze dieſer Art, welche ohne vorhergehende verfaſſungsmäßig erfolgte Veränderung der Verfaſſungs-Urkunde erlaſſen worden ſind, rechtlich wirkungslos ſeien. Dieſe Frage iſt zu verneinen 1). Die in der Verfaſſung ent- 1) Sie iſt in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be- jahung erklären ſich: Hierſemenzel I. S. 35. 214. Beſeler in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Weſterkamp, S. 133 u. be- ſonders v. Rönne, Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver- neinung haben ſich ausgeſprochen O. Bähr, in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28 S. 79, beſonders Hänel, Studien I. S. 258. 2) Die Eigenſchaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver- faſſungsurkunde zu ſtützen pflegt, nämlich, daß ſie „feierlich verbrieft“, „mit der Volksvertretung vereinbart“ ſei und dgl., kommen ebenſo allen anderen Geſetzen zu. 3) Vgl. z. B. v. Rönne, Staatsr. des Deutſchen R. II. 1 S. 33. We-
ſterkamp, S. 196 ff. u. v. a. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0052" n="38"/><fw place="top" type="header">§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.</fw><lb/> widerſtreiten, auch unter Erfüllung der für Verfaſſungsänderungen<lb/> vorgeſchriebenen Erforderniſſe unterſagt und unſtatthaft iſt, und<lb/> ob Geſetze dieſer Art, welche ohne vorhergehende verfaſſungsmäßig<lb/> erfolgte Veränderung der Verfaſſungs-Urkunde erlaſſen worden<lb/> ſind, rechtlich wirkungslos ſeien.</p><lb/> <p>Dieſe Frage iſt zu verneinen <note place="foot" n="1)">Sie iſt in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die <hi rendition="#g">Be-<lb/> jahung</hi> erklären ſich: <hi rendition="#g">Hierſemenzel</hi> <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 35. 214. <hi rendition="#g">Beſeler</hi> in den<lb/> Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. <hi rendition="#g">Zachariä</hi> zur Frage von der<lb/> Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. <hi rendition="#g">Meyer</hi>,<lb/> Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. <hi rendition="#g">Weſterkamp</hi>, S. 133 u. be-<lb/> ſonders v. <hi rendition="#g">Rönne</hi>, Staatsr. des D.R. <hi rendition="#aq">II.</hi> 1. S. 31 fg. Für die <hi rendition="#g">Ver-<lb/> neinung</hi> haben ſich ausgeſprochen O. <hi rendition="#g">Bähr</hi>, in den Preuß. Jahrb. 1871<lb/> Bd. 28 S. 79, beſonders <hi rendition="#g">Hänel</hi>, Studien <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 258.</note>. Die in der Verfaſſung ent-<lb/> haltenen Rechtsſätze können zwar nur unter erſchwerten Bedingun-<lb/> gen abgeändert werden, aber eine <hi rendition="#g">höhere Autorität</hi> als an-<lb/> deren Geſetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren<lb/> Willen im Staate als den des Souverains und in dieſem Willen<lb/> wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfaſſung wie der<lb/> Geſetze. Die Verfaſſung iſt keine myſtiſche Gewalt, welche <hi rendition="#g">über</hi><lb/> dem Staat ſchwebt, <choice><sic>ſodern</sic><corr>ſondern</corr></choice> gleich jedem andern Geſetz ein Willens-<lb/> act <hi rendition="#g">des</hi> Staates und mithin nach dem Willen des Staates ver-<lb/> änderlich <note place="foot" n="2)">Die Eigenſchaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver-<lb/> faſſungsurkunde zu ſtützen pflegt, nämlich, daß ſie „feierlich verbrieft“, „mit<lb/> der Volksvertretung vereinbart“ ſei und dgl., kommen ebenſo allen anderen<lb/> Geſetzen zu.</note>. Es <hi rendition="#g">kann</hi> freilich geſetzlich vorgeſchrieben ſein, daß<lb/> Aenderungen der Verfaſſung nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h.<lb/> durch Geſetze, welche ihren <hi rendition="#g">Inhalt</hi> modifiziren), ſondern nur unmit-<lb/> telbar durch Geſetze, welche ihren <hi rendition="#g">Wortlaut</hi> anders faſſen. Wo ein<lb/> ſolches erſchwerendes Erforderniß für Verfaſſungs-Aenderungen aber<lb/> durch einen poſitiven Rechtsſatz nicht angeordnet iſt, läßt ſich das-<lb/> ſelbe aus der juriſtiſchen Natur der Verfaſſung und dem Verhält-<lb/> niß der Verfaſſungs-Urkunde zu einfachen Geſetzen nicht herleiten.<lb/> Der Satz, daß Spezialgeſetze ſtets mit der Verfaſſung im Ein-<lb/> klang ſtehen <hi rendition="#g">müſſen</hi> und niemals mit ihr unvereinbar ſein<lb/><hi rendition="#g">dürfen</hi> <note place="foot" n="3)">Vgl. z. B. v. <hi rendition="#g">Rönne</hi>, Staatsr. des Deutſchen R. <hi rendition="#aq">II.</hi> 1 S. 33. <hi rendition="#g">We-<lb/> ſterkamp</hi>, S. 196 ff. u. v. a.</note>, iſt lediglich ein Poſtulat der Geſetzgebungs-Politik,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0052]
§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
widerſtreiten, auch unter Erfüllung der für Verfaſſungsänderungen
vorgeſchriebenen Erforderniſſe unterſagt und unſtatthaft iſt, und
ob Geſetze dieſer Art, welche ohne vorhergehende verfaſſungsmäßig
erfolgte Veränderung der Verfaſſungs-Urkunde erlaſſen worden
ſind, rechtlich wirkungslos ſeien.
Dieſe Frage iſt zu verneinen 1). Die in der Verfaſſung ent-
haltenen Rechtsſätze können zwar nur unter erſchwerten Bedingun-
gen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als an-
deren Geſetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren
Willen im Staate als den des Souverains und in dieſem Willen
wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfaſſung wie der
Geſetze. Die Verfaſſung iſt keine myſtiſche Gewalt, welche über
dem Staat ſchwebt, ſondern gleich jedem andern Geſetz ein Willens-
act des Staates und mithin nach dem Willen des Staates ver-
änderlich 2). Es kann freilich geſetzlich vorgeſchrieben ſein, daß
Aenderungen der Verfaſſung nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h.
durch Geſetze, welche ihren Inhalt modifiziren), ſondern nur unmit-
telbar durch Geſetze, welche ihren Wortlaut anders faſſen. Wo ein
ſolches erſchwerendes Erforderniß für Verfaſſungs-Aenderungen aber
durch einen poſitiven Rechtsſatz nicht angeordnet iſt, läßt ſich das-
ſelbe aus der juriſtiſchen Natur der Verfaſſung und dem Verhält-
niß der Verfaſſungs-Urkunde zu einfachen Geſetzen nicht herleiten.
Der Satz, daß Spezialgeſetze ſtets mit der Verfaſſung im Ein-
klang ſtehen müſſen und niemals mit ihr unvereinbar ſein
dürfen 3), iſt lediglich ein Poſtulat der Geſetzgebungs-Politik,
1) Sie iſt in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be-
jahung erklären ſich: Hierſemenzel I. S. 35. 214. Beſeler in den
Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der
Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer,
Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Weſterkamp, S. 133 u. be-
ſonders v. Rönne, Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver-
neinung haben ſich ausgeſprochen O. Bähr, in den Preuß. Jahrb. 1871
Bd. 28 S. 79, beſonders Hänel, Studien I. S. 258.
2) Die Eigenſchaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver-
faſſungsurkunde zu ſtützen pflegt, nämlich, daß ſie „feierlich verbrieft“, „mit
der Volksvertretung vereinbart“ ſei und dgl., kommen ebenſo allen anderen
Geſetzen zu.
3) Vgl. z. B. v. Rönne, Staatsr. des Deutſchen R. II. 1 S. 33. We-
ſterkamp, S. 196 ff. u. v. a.
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