Zu diesem Ende merken wir an, daß die Mathe- matiker, wie in allem, was Methode heißt, so auch hierinn den Philosophen mit einem guten Beyspiele vorgegangen. Um dieses zu zeigen, werde ich die in dem zweyten Hauptstücke der Dianoiologie (§. 110.) gemachte Anmerkung hier wiederholen. Die Ma- thematiker suchen nämlich allerdings auch ihre Be- griffe, Sätze und Aufgaben allgemeiner zu machen, allein dieß geschieht nicht so, daß sie im abstrahiren bald alles wegließen, sondern sie nehmen ehender noch mehr Umstände dazu, und dadurch sehen ihre allgemeinen Formeln viel zusammengesetzter aus, als die specialen, weil sie in jenen alle Varietäten bey- behalten, die in besondern Fällen vorkommen, und in vielen von diesen zum Theil wegbleiben. Man kann die allgemeinen Gleichungen für jede krumme Linien vom zweyten, dritten, vierten etc. Grade, die Newtonische Binomialformel etc. zum Beyspiele nehmen.
§. 194.
Hingegen wird bey dem philosophischen Abstrahi- ren von den specialenn Begriffen desto mehr ganz weg- gelassen, je abstracter oder je allgemeiner man sie machet. Und dieser Weg ist dem erstbeschriebenen so entgegengesetzt, daß da die Mathematiker ihre Be- griffe und Formeln mit vieler Mühe und Sorgfalt allgemeiner machen, um die specialern nicht nur alle zu haben, sondern sie leicht daraus herleiten zu kön- nen; den Philosophen hingegen das Abstrahiren sehr leicht, dagegen aber die Bestimmung des Specialen aus dem Allgemeinen desto schwerer wird. Denn bey dem Abstrahiren lassen sie alles Speciale derge-
stalt
V. Hauptſtuͤck.
§. 193.
Zu dieſem Ende merken wir an, daß die Mathe- matiker, wie in allem, was Methode heißt, ſo auch hierinn den Philoſophen mit einem guten Beyſpiele vorgegangen. Um dieſes zu zeigen, werde ich die in dem zweyten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie (§. 110.) gemachte Anmerkung hier wiederholen. Die Ma- thematiker ſuchen naͤmlich allerdings auch ihre Be- griffe, Saͤtze und Aufgaben allgemeiner zu machen, allein dieß geſchieht nicht ſo, daß ſie im abſtrahiren bald alles wegließen, ſondern ſie nehmen ehender noch mehr Umſtaͤnde dazu, und dadurch ſehen ihre allgemeinen Formeln viel zuſammengeſetzter aus, als die ſpecialen, weil ſie in jenen alle Varietaͤten bey- behalten, die in beſondern Faͤllen vorkommen, und in vielen von dieſen zum Theil wegbleiben. Man kann die allgemeinen Gleichungen fuͤr jede krumme Linien vom zweyten, dritten, vierten ꝛc. Grade, die Newtoniſche Binomialformel ꝛc. zum Beyſpiele nehmen.
§. 194.
Hingegen wird bey dem philoſophiſchen Abſtrahi- ren von den ſpecialeñ Begriffen deſto mehr ganz weg- gelaſſen, je abſtracter oder je allgemeiner man ſie machet. Und dieſer Weg iſt dem erſtbeſchriebenen ſo entgegengeſetzt, daß da die Mathematiker ihre Be- griffe und Formeln mit vieler Muͤhe und Sorgfalt allgemeiner machen, um die ſpecialern nicht nur alle zu haben, ſondern ſie leicht daraus herleiten zu koͤn- nen; den Philoſophen hingegen das Abſtrahiren ſehr leicht, dagegen aber die Beſtimmung des Specialen aus dem Allgemeinen deſto ſchwerer wird. Denn bey dem Abſtrahiren laſſen ſie alles Speciale derge-
ſtalt
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V. Hauptſtuͤck.
§. 193.
Zu dieſem Ende merken wir an, daß die Mathe-
matiker, wie in allem, was Methode heißt, ſo auch
hierinn den Philoſophen mit einem guten Beyſpiele
vorgegangen. Um dieſes zu zeigen, werde ich die
in dem zweyten Hauptſtuͤcke der Dianoiologie (§. 110.)
gemachte Anmerkung hier wiederholen. Die Ma-
thematiker ſuchen naͤmlich allerdings auch ihre Be-
griffe, Saͤtze und Aufgaben allgemeiner zu machen,
allein dieß geſchieht nicht ſo, daß ſie im abſtrahiren
bald alles wegließen, ſondern ſie nehmen ehender
noch mehr Umſtaͤnde dazu, und dadurch ſehen ihre
allgemeinen Formeln viel zuſammengeſetzter aus, als
die ſpecialen, weil ſie in jenen alle Varietaͤten bey-
behalten, die in beſondern Faͤllen vorkommen, und
in vielen von dieſen zum Theil wegbleiben. Man
kann die allgemeinen Gleichungen fuͤr jede krumme
Linien vom zweyten, dritten, vierten ꝛc. Grade, die
Newtoniſche Binomialformel ꝛc. zum Beyſpiele
nehmen.
§. 194.
Hingegen wird bey dem philoſophiſchen Abſtrahi-
ren von den ſpecialeñ Begriffen deſto mehr ganz weg-
gelaſſen, je abſtracter oder je allgemeiner man ſie
machet. Und dieſer Weg iſt dem erſtbeſchriebenen
ſo entgegengeſetzt, daß da die Mathematiker ihre Be-
griffe und Formeln mit vieler Muͤhe und Sorgfalt
allgemeiner machen, um die ſpecialern nicht nur alle
zu haben, ſondern ſie leicht daraus herleiten zu koͤn-
nen; den Philoſophen hingegen das Abſtrahiren ſehr
leicht, dagegen aber die Beſtimmung des Specialen
aus dem Allgemeinen deſto ſchwerer wird. Denn
bey dem Abſtrahiren laſſen ſie alles Speciale derge-
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Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 1. Riga, 1771, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic01_1771/190>, abgerufen am 23.11.2024.
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