Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite
XXXIII. Hauptstück.
§. 904.

Wolf glaubte eine Realdefinition des Unendlichen
heraus gebracht zu haben, als er sagte, das Unend-
liche sey ein solches Ding, welches alles hat, was es
zugleich haben kann. Dawider hat man bereits an-
gemerket, daß diese Erklärung auf jedes Indiuiduum
angewandt werden könne, und daher zu weit sey.

§. 905.

Ferner hieß es, dasjenige sey unendlich, was nicht
größer werden kann. Es scheint aber auch, daß hie-
durch das Unendliche von dem, was man in der Ma-
thematic ein Maximum nennet, nicht genug unter-
schieden werde. Ein Sinus kann nicht größer als der
Halbmesser des Cirkels werden, deswegen ist der Si-
nus
von neunzig Graden nicht unendlich, sondern ge-
rade nur so groß als der Halbmesser.

§. 906.

Die dritte Definition ist bloß grammatisch. Man
nennet nämlich unendlich, was keine Schranken hat.
Die Wörter Ende und Schranken sind höchstens
darinn verschieden, daß ersteres mehr bey lineären
letzteres mehr bey räumlichen Dingen und Graden
vorkömmt, ersteres sich mehr auf die Sache selbst,
letzteres aber auf die umliegende und einschränkende
Dinge sich bezieht. Diese Erklärung setzet überdieß
voraus, daß man vom Endlichen und von Schran-
ken
klärere Begriffe habe, als vom Unendlichen.
Die Scholastiker sagten aber, daß idea infiniti prior
idea finiti
sey, und so würden sie mit der Definition
auch nicht zufrieden seyn. Das Abstrahiren von den

Schran-
XXXIII. Hauptſtuͤck.
§. 904.

Wolf glaubte eine Realdefinition des Unendlichen
heraus gebracht zu haben, als er ſagte, das Unend-
liche ſey ein ſolches Ding, welches alles hat, was es
zugleich haben kann. Dawider hat man bereits an-
gemerket, daß dieſe Erklaͤrung auf jedes Indiuiduum
angewandt werden koͤnne, und daher zu weit ſey.

§. 905.

Ferner hieß es, dasjenige ſey unendlich, was nicht
groͤßer werden kann. Es ſcheint aber auch, daß hie-
durch das Unendliche von dem, was man in der Ma-
thematic ein Maximum nennet, nicht genug unter-
ſchieden werde. Ein Sinus kann nicht groͤßer als der
Halbmeſſer des Cirkels werden, deswegen iſt der Si-
nus
von neunzig Graden nicht unendlich, ſondern ge-
rade nur ſo groß als der Halbmeſſer.

§. 906.

Die dritte Definition iſt bloß grammatiſch. Man
nennet naͤmlich unendlich, was keine Schranken hat.
Die Woͤrter Ende und Schranken ſind hoͤchſtens
darinn verſchieden, daß erſteres mehr bey lineaͤren
letzteres mehr bey raͤumlichen Dingen und Graden
vorkoͤmmt, erſteres ſich mehr auf die Sache ſelbſt,
letzteres aber auf die umliegende und einſchraͤnkende
Dinge ſich bezieht. Dieſe Erklaͤrung ſetzet uͤberdieß
voraus, daß man vom Endlichen und von Schran-
ken
klaͤrere Begriffe habe, als vom Unendlichen.
Die Scholaſtiker ſagten aber, daß idea infiniti prior
idea finiti
ſey, und ſo wuͤrden ſie mit der Definition
auch nicht zufrieden ſeyn. Das Abſtrahiren von den

Schran-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0556" n="548"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XXXIII.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 904.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Wolf</hi> glaubte eine Realdefinition des Unendlichen<lb/>
heraus gebracht zu haben, als er &#x017F;agte, das Unend-<lb/>
liche &#x017F;ey ein &#x017F;olches Ding, welches alles hat, was es<lb/>
zugleich haben kann. Dawider hat man bereits an-<lb/>
gemerket, daß die&#x017F;e Erkla&#x0364;rung auf jedes <hi rendition="#aq">Indiuiduum</hi><lb/>
angewandt werden ko&#x0364;nne, und daher zu weit &#x017F;ey.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 905.</head><lb/>
            <p>Ferner hieß es, dasjenige &#x017F;ey unendlich, was nicht<lb/>
gro&#x0364;ßer werden kann. Es &#x017F;cheint aber auch, daß hie-<lb/>
durch das Unendliche von dem, was man in der Ma-<lb/>
thematic ein <hi rendition="#aq">Maximum</hi> nennet, nicht genug unter-<lb/>
&#x017F;chieden werde. Ein <hi rendition="#aq">Sinus</hi> kann nicht gro&#x0364;ßer als der<lb/>
Halbme&#x017F;&#x017F;er des Cirkels werden, deswegen i&#x017F;t der <hi rendition="#aq">Si-<lb/>
nus</hi> von neunzig Graden nicht unendlich, &#x017F;ondern ge-<lb/>
rade nur &#x017F;o groß als der Halbme&#x017F;&#x017F;er.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 906.</head><lb/>
            <p>Die dritte Definition i&#x017F;t bloß grammati&#x017F;ch. Man<lb/>
nennet na&#x0364;mlich unendlich, was keine Schranken hat.<lb/>
Die Wo&#x0364;rter <hi rendition="#fr">Ende</hi> und <hi rendition="#fr">Schranken</hi> &#x017F;ind ho&#x0364;ch&#x017F;tens<lb/>
darinn ver&#x017F;chieden, daß er&#x017F;teres mehr bey <hi rendition="#fr">linea&#x0364;ren</hi><lb/>
letzteres mehr bey <hi rendition="#fr">ra&#x0364;umlichen</hi> Dingen und Graden<lb/>
vorko&#x0364;mmt, er&#x017F;teres &#x017F;ich mehr auf die Sache &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
letzteres aber auf die umliegende und ein&#x017F;chra&#x0364;nkende<lb/>
Dinge &#x017F;ich bezieht. Die&#x017F;e Erkla&#x0364;rung &#x017F;etzet u&#x0364;berdieß<lb/>
voraus, daß man vom <hi rendition="#fr">Endlichen</hi> und von <hi rendition="#fr">Schran-<lb/>
ken</hi> kla&#x0364;rere Begriffe habe, als vom <hi rendition="#fr">Unendlichen.</hi><lb/>
Die Schola&#x017F;tiker &#x017F;agten aber, daß <hi rendition="#aq">idea infiniti prior<lb/>
idea finiti</hi> &#x017F;ey, und &#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;ie mit der Definition<lb/>
auch nicht zufrieden &#x017F;eyn. Das Ab&#x017F;trahiren von den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Schran-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[548/0556] XXXIII. Hauptſtuͤck. §. 904. Wolf glaubte eine Realdefinition des Unendlichen heraus gebracht zu haben, als er ſagte, das Unend- liche ſey ein ſolches Ding, welches alles hat, was es zugleich haben kann. Dawider hat man bereits an- gemerket, daß dieſe Erklaͤrung auf jedes Indiuiduum angewandt werden koͤnne, und daher zu weit ſey. §. 905. Ferner hieß es, dasjenige ſey unendlich, was nicht groͤßer werden kann. Es ſcheint aber auch, daß hie- durch das Unendliche von dem, was man in der Ma- thematic ein Maximum nennet, nicht genug unter- ſchieden werde. Ein Sinus kann nicht groͤßer als der Halbmeſſer des Cirkels werden, deswegen iſt der Si- nus von neunzig Graden nicht unendlich, ſondern ge- rade nur ſo groß als der Halbmeſſer. §. 906. Die dritte Definition iſt bloß grammatiſch. Man nennet naͤmlich unendlich, was keine Schranken hat. Die Woͤrter Ende und Schranken ſind hoͤchſtens darinn verſchieden, daß erſteres mehr bey lineaͤren letzteres mehr bey raͤumlichen Dingen und Graden vorkoͤmmt, erſteres ſich mehr auf die Sache ſelbſt, letzteres aber auf die umliegende und einſchraͤnkende Dinge ſich bezieht. Dieſe Erklaͤrung ſetzet uͤberdieß voraus, daß man vom Endlichen und von Schran- ken klaͤrere Begriffe habe, als vom Unendlichen. Die Scholaſtiker ſagten aber, daß idea infiniti prior idea finiti ſey, und ſo wuͤrden ſie mit der Definition auch nicht zufrieden ſeyn. Das Abſtrahiren von den Schran-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic02_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic02_1771/556
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Anlage zur Architectonic. Bd. 2. Riga, 1771, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_architectonic02_1771/556>, abgerufen am 27.11.2024.