Wir sind diese einfache Form wiederum den Mathe- matikern schuldig. Diese haben solche Fragen Auf- gaben genannt, und die Antwort darauf, die Auflö- sung, wozu noch der Beweis kömmt, daß durch die Auflösung der Frage ein Genügen geschehen sey. Es giebt hier, eben so wie bey den Sätzen, solche Fälle, wo so wohl die Auflösung als der Beweis von selbst ein- leuchtend ist, und wo man daher durch die bloße Vor- stellung der Frage die Möglichkeit derselben einsiehr. Solche Aufgaben heißen die Mathematiker Postulata oder Forderungen. Euklid trägt seine Postulata so vor:
1. Von jedem Punkt zu jedem andern eine gerade Linie ziehen.
2. Eine endliche gerade Linie gerade fortziehen.
3. Aus jedem Mittelpunkt und jedem Zwischen- raume einen Zirkel ziehen.
Diese euklidischen Postulata haben offenbar die Form von jeden seinen Aufgaben. Man hat sie daher sehr unrichtig durch Heischsätze, und die Aufgaben durch practische beweisbare Sätze übersetzt, und in den neuern Vernunftlehren angenommen. Wir wollen den Unterschied deutlicher aufklären.
§. 157.
Einmal mag es angehen, daß man die Sätze in theoretische und practische eintheile. Erstere zeigen z. E. nur, was die Sache ist, welche Eigen- schaften und Verhältnisse sie habe etc. Letztere zeigen, daß eine Sache möglich sey, wie sie entstehe, welche Veränderungen sie leide etc. und zwar immer in Ver-
hält-
G 3
von den Urtheilen und Fragen.
Eine Linie ziehen;
Ein Verhaͤltniß finden;
Eine Hoͤhe meſſen;
Einen Satz beweiſen ꝛc.
Wir ſind dieſe einfache Form wiederum den Mathe- matikern ſchuldig. Dieſe haben ſolche Fragen Auf- gaben genannt, und die Antwort darauf, die Aufloͤ- ſung, wozu noch der Beweis koͤmmt, daß durch die Aufloͤſung der Frage ein Genuͤgen geſchehen ſey. Es giebt hier, eben ſo wie bey den Saͤtzen, ſolche Faͤlle, wo ſo wohl die Aufloͤſung als der Beweis von ſelbſt ein- leuchtend iſt, und wo man daher durch die bloße Vor- ſtellung der Frage die Moͤglichkeit derſelben einſiehr. Solche Aufgaben heißen die Mathematiker Poſtulata oder Forderungen. Euklid traͤgt ſeine Poſtulata ſo vor:
1. Von jedem Punkt zu jedem andern eine gerade Linie ziehen.
2. Eine endliche gerade Linie gerade fortziehen.
3. Aus jedem Mittelpunkt und jedem Zwiſchen- raume einen Zirkel ziehen.
Dieſe euklidiſchen Poſtulata haben offenbar die Form von jeden ſeinen Aufgaben. Man hat ſie daher ſehr unrichtig durch Heiſchſaͤtze, und die Aufgaben durch practiſche beweisbare Saͤtze uͤberſetzt, und in den neuern Vernunftlehren angenommen. Wir wollen den Unterſchied deutlicher aufklaͤren.
§. 157.
Einmal mag es angehen, daß man die Saͤtze in theoretiſche und practiſche eintheile. Erſtere zeigen z. E. nur, was die Sache iſt, welche Eigen- ſchaften und Verhaͤltniſſe ſie habe ꝛc. Letztere zeigen, daß eine Sache moͤglich ſey, wie ſie entſtehe, welche Veraͤnderungen ſie leide ꝛc. und zwar immer in Ver-
haͤlt-
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von den Urtheilen und Fragen.
Eine Linie ziehen;
Ein Verhaͤltniß finden;
Eine Hoͤhe meſſen;
Einen Satz beweiſen ꝛc.
Wir ſind dieſe einfache Form wiederum den Mathe-
matikern ſchuldig. Dieſe haben ſolche Fragen Auf-
gaben genannt, und die Antwort darauf, die Aufloͤ-
ſung, wozu noch der Beweis koͤmmt, daß durch die
Aufloͤſung der Frage ein Genuͤgen geſchehen ſey. Es
giebt hier, eben ſo wie bey den Saͤtzen, ſolche Faͤlle, wo
ſo wohl die Aufloͤſung als der Beweis von ſelbſt ein-
leuchtend iſt, und wo man daher durch die bloße Vor-
ſtellung der Frage die Moͤglichkeit derſelben einſiehr.
Solche Aufgaben heißen die Mathematiker Poſtulata
oder Forderungen. Euklid traͤgt ſeine Poſtulata
ſo vor:
1. Von jedem Punkt zu jedem andern eine gerade
Linie ziehen.
2. Eine endliche gerade Linie gerade fortziehen.
3. Aus jedem Mittelpunkt und jedem Zwiſchen-
raume einen Zirkel ziehen.
Dieſe euklidiſchen Poſtulata haben offenbar die Form
von jeden ſeinen Aufgaben. Man hat ſie daher ſehr
unrichtig durch Heiſchſaͤtze, und die Aufgaben durch
practiſche beweisbare Saͤtze uͤberſetzt, und in den
neuern Vernunftlehren angenommen. Wir wollen
den Unterſchied deutlicher aufklaͤren.
§. 157.
Einmal mag es angehen, daß man die Saͤtze in
theoretiſche und practiſche eintheile. Erſtere
zeigen z. E. nur, was die Sache iſt, welche Eigen-
ſchaften und Verhaͤltniſſe ſie habe ꝛc. Letztere zeigen,
daß eine Sache moͤglich ſey, wie ſie entſtehe, welche
Veraͤnderungen ſie leide ꝛc. und zwar immer in Ver-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/123>, abgerufen am 25.11.2024.
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