Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Hauptstück, von den einfachen
angestellte Vergleichung der Blinden und Sehenden
mag gewißermaaßen zum Leitfaden dienen, und kann
unstreitig noch weiter getrieben werden, weil wir nur
einige einzelne Stücke daraus angeführt haben. Es
ist nicht zu zweifeln, daß Mathematiker etwann auf
Figuren und Mechanismos fallen könnten, welche
bey einem Sinne statt haben, der uns mangelt, oder
der von dem Auge so viel und mehr noch, als das
Auge von dem Ohr verschieden und dessen unerachtet
sehr einfach wäre. Z. E. ein Blinder empfindet die
Wärme der Sonne, Sehende aber noch überdies ihr
Licht und ihre scheinbare Figur. Man könnte
vermuthen, daß es an sich auch möglich wäre, ihre
Größe, ihren Abstand, ihre Attractionskraft, ihre
innere Structur etc. zu empfinden. Durch welche
klare Begriffe dieses möglich sey, wird uns verborgen
bleiben, weil wir einen solchen Sinn nicht haben, aber
das Geometrische darinn ist uns nicht an sich noth-
wendig unmöglich.

§. 66.

Betrachtungen von dieser Art mögen angenehm
seyn, in sofern man sie etwann als Vorempfindungen
der Zukunft ansehen kann, und in sofern fordern sie
nebst der geometrischen Richtigkeit in den Schlüssen
noch alle Lebhaftigkeit eines dichtrischen Ausdruckes,
Sie geben uns aber auch zugleich an, was eine wissen-
schaftliche Erkenntniß, die durchaus a priori und voll-
ständig seyn soll, sagen will. Man setze, daß man
das Geometrische und den Mechanismum noch meh-
rerer Sinnen finden, und auch beweisen könne, daß
ein solcher Mechanismus, wenn er mit dazu gehören-
den Empfindungsnerven verbunden ist, Begriffe und
Bewußtseyn in der Seele erregen könne, so ist dieses
auch alles, was uns hiebey zu thun möglich ist. Al-

lein

I. Hauptſtuͤck, von den einfachen
angeſtellte Vergleichung der Blinden und Sehenden
mag gewißermaaßen zum Leitfaden dienen, und kann
unſtreitig noch weiter getrieben werden, weil wir nur
einige einzelne Stuͤcke daraus angefuͤhrt haben. Es
iſt nicht zu zweifeln, daß Mathematiker etwann auf
Figuren und Mechaniſmos fallen koͤnnten, welche
bey einem Sinne ſtatt haben, der uns mangelt, oder
der von dem Auge ſo viel und mehr noch, als das
Auge von dem Ohr verſchieden und deſſen unerachtet
ſehr einfach waͤre. Z. E. ein Blinder empfindet die
Waͤrme der Sonne, Sehende aber noch uͤberdies ihr
Licht und ihre ſcheinbare Figur. Man koͤnnte
vermuthen, daß es an ſich auch moͤglich waͤre, ihre
Groͤße, ihren Abſtand, ihre Attractionskraft, ihre
innere Structur ꝛc. zu empfinden. Durch welche
klare Begriffe dieſes moͤglich ſey, wird uns verborgen
bleiben, weil wir einen ſolchen Sinn nicht haben, aber
das Geometriſche darinn iſt uns nicht an ſich noth-
wendig unmoͤglich.

§. 66.

Betrachtungen von dieſer Art moͤgen angenehm
ſeyn, in ſofern man ſie etwann als Vorempfindungen
der Zukunft anſehen kann, und in ſofern fordern ſie
nebſt der geometriſchen Richtigkeit in den Schluͤſſen
noch alle Lebhaftigkeit eines dichtriſchen Ausdruckes,
Sie geben uns aber auch zugleich an, was eine wiſſen-
ſchaftliche Erkenntniß, die durchaus a priori und voll-
ſtaͤndig ſeyn ſoll, ſagen will. Man ſetze, daß man
das Geometriſche und den Mechaniſmum noch meh-
rerer Sinnen finden, und auch beweiſen koͤnne, daß
ein ſolcher Mechaniſmus, wenn er mit dazu gehoͤren-
den Empfindungsnerven verbunden iſt, Begriffe und
Bewußtſeyn in der Seele erregen koͤnne, ſo iſt dieſes
auch alles, was uns hiebey zu thun moͤglich iſt. Al-

lein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0518" n="496"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck, von den einfachen</hi></fw><lb/>
ange&#x017F;tellte Vergleichung der Blinden und Sehenden<lb/>
mag gewißermaaßen zum Leitfaden dienen, und kann<lb/>
un&#x017F;treitig noch weiter getrieben werden, weil wir nur<lb/>
einige einzelne Stu&#x0364;cke daraus angefu&#x0364;hrt haben. Es<lb/>
i&#x017F;t nicht zu zweifeln, daß Mathematiker etwann auf<lb/>
Figuren und <hi rendition="#aq">Mechani&#x017F;mos</hi> fallen ko&#x0364;nnten, welche<lb/>
bey einem <hi rendition="#fr">Sinne</hi> &#x017F;tatt haben, der uns mangelt, oder<lb/>
der von dem Auge &#x017F;o viel und mehr noch, als das<lb/>
Auge von dem Ohr ver&#x017F;chieden und de&#x017F;&#x017F;en unerachtet<lb/>
&#x017F;ehr einfach wa&#x0364;re. Z. E. ein Blinder empfindet die<lb/>
Wa&#x0364;rme der Sonne, Sehende aber noch u&#x0364;berdies ihr<lb/>
Licht und ihre &#x017F;cheinbare Figur. Man ko&#x0364;nnte<lb/>
vermuthen, daß es an &#x017F;ich auch mo&#x0364;glich wa&#x0364;re, ihre<lb/>
Gro&#x0364;ße, ihren Ab&#x017F;tand, ihre Attractionskraft, ihre<lb/>
innere Structur &#xA75B;c. zu empfinden. Durch welche<lb/>
klare Begriffe die&#x017F;es mo&#x0364;glich &#x017F;ey, wird uns verborgen<lb/>
bleiben, weil wir einen &#x017F;olchen Sinn nicht haben, aber<lb/>
das Geometri&#x017F;che darinn i&#x017F;t uns nicht an &#x017F;ich noth-<lb/>
wendig unmo&#x0364;glich.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 66.</head><lb/>
            <p>Betrachtungen von die&#x017F;er Art mo&#x0364;gen angenehm<lb/>
&#x017F;eyn, in &#x017F;ofern man &#x017F;ie etwann als Vorempfindungen<lb/>
der Zukunft an&#x017F;ehen kann, und in &#x017F;ofern fordern &#x017F;ie<lb/>
neb&#x017F;t der geometri&#x017F;chen Richtigkeit in den Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
noch alle Lebhaftigkeit eines dichtri&#x017F;chen Ausdruckes,<lb/>
Sie geben uns aber auch zugleich an, was eine wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaftliche Erkenntniß, die durchaus <hi rendition="#aq">a priori</hi> und voll-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;eyn &#x017F;oll, &#x017F;agen will. Man &#x017F;etze, daß man<lb/>
das Geometri&#x017F;che und den <hi rendition="#aq">Mechani&#x017F;mum</hi> noch meh-<lb/>
rerer Sinnen finden, und auch bewei&#x017F;en ko&#x0364;nne, daß<lb/>
ein &#x017F;olcher <hi rendition="#aq">Mechani&#x017F;mus,</hi> wenn er mit dazu geho&#x0364;ren-<lb/>
den Empfindungsnerven verbunden i&#x017F;t, Begriffe und<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn in der Seele erregen ko&#x0364;nne, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;es<lb/>
auch alles, was uns hiebey zu thun mo&#x0364;glich i&#x017F;t. Al-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lein</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[496/0518] I. Hauptſtuͤck, von den einfachen angeſtellte Vergleichung der Blinden und Sehenden mag gewißermaaßen zum Leitfaden dienen, und kann unſtreitig noch weiter getrieben werden, weil wir nur einige einzelne Stuͤcke daraus angefuͤhrt haben. Es iſt nicht zu zweifeln, daß Mathematiker etwann auf Figuren und Mechaniſmos fallen koͤnnten, welche bey einem Sinne ſtatt haben, der uns mangelt, oder der von dem Auge ſo viel und mehr noch, als das Auge von dem Ohr verſchieden und deſſen unerachtet ſehr einfach waͤre. Z. E. ein Blinder empfindet die Waͤrme der Sonne, Sehende aber noch uͤberdies ihr Licht und ihre ſcheinbare Figur. Man koͤnnte vermuthen, daß es an ſich auch moͤglich waͤre, ihre Groͤße, ihren Abſtand, ihre Attractionskraft, ihre innere Structur ꝛc. zu empfinden. Durch welche klare Begriffe dieſes moͤglich ſey, wird uns verborgen bleiben, weil wir einen ſolchen Sinn nicht haben, aber das Geometriſche darinn iſt uns nicht an ſich noth- wendig unmoͤglich. §. 66. Betrachtungen von dieſer Art moͤgen angenehm ſeyn, in ſofern man ſie etwann als Vorempfindungen der Zukunft anſehen kann, und in ſofern fordern ſie nebſt der geometriſchen Richtigkeit in den Schluͤſſen noch alle Lebhaftigkeit eines dichtriſchen Ausdruckes, Sie geben uns aber auch zugleich an, was eine wiſſen- ſchaftliche Erkenntniß, die durchaus a priori und voll- ſtaͤndig ſeyn ſoll, ſagen will. Man ſetze, daß man das Geometriſche und den Mechaniſmum noch meh- rerer Sinnen finden, und auch beweiſen koͤnne, daß ein ſolcher Mechaniſmus, wenn er mit dazu gehoͤren- den Empfindungsnerven verbunden iſt, Begriffe und Bewußtſeyn in der Seele erregen koͤnne, ſo iſt dieſes auch alles, was uns hiebey zu thun moͤglich iſt. Al- lein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/518
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/518>, abgerufen am 22.11.2024.