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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Wortforschung.

§. 265. Man wird ohne Mühe den Grund dieser
Unvollständigkeit in der Art finden, wie neue Wörter
und neue Bedeutungen derselben in den Sprachen auf-
kommen. Es geschieht selten, daß wir das Wesen der
Dinge genau kennen, und noch seltener, daß abgeleitete
oder zusammengesetzte Wörter gefunden würden, dassel-
be genau auszudrücken. Daher begnügen wir uns, so
viel es die Sprache zuläßt, die Dinge mit Wörtern zu
benennen, welche die Sache wenigstens von einer ge-
wissen Seite vorstellen, oder sie nach Aehnlichkeiten be-
nennen. Und es ist klar, daß, so lange die Sache selbst
vorhanden und bekannt ist, das Etymologische in dem
Namen eben nicht als das Hülfsmittel, sie zu erkennen,
angesehen wird, und der Name eben so gut ein Wur-
zelwort oder von ganz andern Dingen hergenommen
seyn kann. So z. E. weiß man in der Mathematik,
was der pythagorische Lehrsatz, der Nonius,, ein
Orrery etc. bedeuten, weil die Sache selbst erklärt, be-
schrieben oder vorgelegt wird. Die Worte aber geben
davon nichts an.

§. 266. Hingegen wird die Etymologie nothwen-
diger, wenn bald nichts mehr als die Worte übrig blei-
ben, wie es in den abgelebten Sprachen geschieht. Für
diese wäre zu wünschen, daß alle Ableitungen darinn be-
deutend und richtig, und alle Stuffen, durch die jedes
Wort metaphorisch geworden, bekannt, oder wenigstens
nicht auf zufällige Anläße oder Jrrthümer, sondern auf
die Natur der Sache selbst gegründet wären. Ein
Wort, das sich durch mehrere Stuffen von seiner ersten
Bedeutung oder auch von dem Begriffe seines Wurzel-
wortes entfernt, wird in dieser entserntern Bedeutung
gleichsam zu einem neuen Wurzelwort, weil man sich
dabey der Aehnlichkeiten, durch die es sich entfernt hat,
nicht mehr bewußt ist. Es würde demnach nicht wohl
anders als eine schwülstige, übertriebene und unnatür-

liche
Von der Wortforſchung.

§. 265. Man wird ohne Muͤhe den Grund dieſer
Unvollſtaͤndigkeit in der Art finden, wie neue Woͤrter
und neue Bedeutungen derſelben in den Sprachen auf-
kommen. Es geſchieht ſelten, daß wir das Weſen der
Dinge genau kennen, und noch ſeltener, daß abgeleitete
oder zuſammengeſetzte Woͤrter gefunden wuͤrden, daſſel-
be genau auszudruͤcken. Daher begnuͤgen wir uns, ſo
viel es die Sprache zulaͤßt, die Dinge mit Woͤrtern zu
benennen, welche die Sache wenigſtens von einer ge-
wiſſen Seite vorſtellen, oder ſie nach Aehnlichkeiten be-
nennen. Und es iſt klar, daß, ſo lange die Sache ſelbſt
vorhanden und bekannt iſt, das Etymologiſche in dem
Namen eben nicht als das Huͤlfsmittel, ſie zu erkennen,
angeſehen wird, und der Name eben ſo gut ein Wur-
zelwort oder von ganz andern Dingen hergenommen
ſeyn kann. So z. E. weiß man in der Mathematik,
was der pythagoriſche Lehrſatz, der Nonius,, ein
Orrery ꝛc. bedeuten, weil die Sache ſelbſt erklaͤrt, be-
ſchrieben oder vorgelegt wird. Die Worte aber geben
davon nichts an.

§. 266. Hingegen wird die Etymologie nothwen-
diger, wenn bald nichts mehr als die Worte uͤbrig blei-
ben, wie es in den abgelebten Sprachen geſchieht. Fuͤr
dieſe waͤre zu wuͤnſchen, daß alle Ableitungen darinn be-
deutend und richtig, und alle Stuffen, durch die jedes
Wort metaphoriſch geworden, bekannt, oder wenigſtens
nicht auf zufaͤllige Anlaͤße oder Jrrthuͤmer, ſondern auf
die Natur der Sache ſelbſt gegruͤndet waͤren. Ein
Wort, das ſich durch mehrere Stuffen von ſeiner erſten
Bedeutung oder auch von dem Begriffe ſeines Wurzel-
wortes entfernt, wird in dieſer entſerntern Bedeutung
gleichſam zu einem neuen Wurzelwort, weil man ſich
dabey der Aehnlichkeiten, durch die es ſich entfernt hat,
nicht mehr bewußt iſt. Es wuͤrde demnach nicht wohl
anders als eine ſchwuͤlſtige, uͤbertriebene und unnatuͤr-

liche
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[159/0165] Von der Wortforſchung. §. 265. Man wird ohne Muͤhe den Grund dieſer Unvollſtaͤndigkeit in der Art finden, wie neue Woͤrter und neue Bedeutungen derſelben in den Sprachen auf- kommen. Es geſchieht ſelten, daß wir das Weſen der Dinge genau kennen, und noch ſeltener, daß abgeleitete oder zuſammengeſetzte Woͤrter gefunden wuͤrden, daſſel- be genau auszudruͤcken. Daher begnuͤgen wir uns, ſo viel es die Sprache zulaͤßt, die Dinge mit Woͤrtern zu benennen, welche die Sache wenigſtens von einer ge- wiſſen Seite vorſtellen, oder ſie nach Aehnlichkeiten be- nennen. Und es iſt klar, daß, ſo lange die Sache ſelbſt vorhanden und bekannt iſt, das Etymologiſche in dem Namen eben nicht als das Huͤlfsmittel, ſie zu erkennen, angeſehen wird, und der Name eben ſo gut ein Wur- zelwort oder von ganz andern Dingen hergenommen ſeyn kann. So z. E. weiß man in der Mathematik, was der pythagoriſche Lehrſatz, der Nonius,, ein Orrery ꝛc. bedeuten, weil die Sache ſelbſt erklaͤrt, be- ſchrieben oder vorgelegt wird. Die Worte aber geben davon nichts an. §. 266. Hingegen wird die Etymologie nothwen- diger, wenn bald nichts mehr als die Worte uͤbrig blei- ben, wie es in den abgelebten Sprachen geſchieht. Fuͤr dieſe waͤre zu wuͤnſchen, daß alle Ableitungen darinn be- deutend und richtig, und alle Stuffen, durch die jedes Wort metaphoriſch geworden, bekannt, oder wenigſtens nicht auf zufaͤllige Anlaͤße oder Jrrthuͤmer, ſondern auf die Natur der Sache ſelbſt gegruͤndet waͤren. Ein Wort, das ſich durch mehrere Stuffen von ſeiner erſten Bedeutung oder auch von dem Begriffe ſeines Wurzel- wortes entfernt, wird in dieſer entſerntern Bedeutung gleichſam zu einem neuen Wurzelwort, weil man ſich dabey der Aehnlichkeiten, durch die es ſich entfernt hat, nicht mehr bewußt iſt. Es wuͤrde demnach nicht wohl anders als eine ſchwuͤlſtige, uͤbertriebene und unnatuͤr- liche

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/165>, abgerufen am 14.05.2024.