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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem psychologischen Schein.
vollständig bestimmt hat. Denn da müssen wir alles
zusammennehmen, was in dem Menschen selbst ein
Grund ist, warum er sich eine Sache vielmehr so, als
anders vorstellt. Die genauere Einsicht in verschiedene
Arten von Sachen, hängt von den natürlichen Fähig-
keiten, von den durch Uebung erlangten Fertigkeiten der
Kräfte des Verstandes, und von der durch Erfahrung
und Theorie erlangten Erkenntniß derselben ab. Und
überhaupt lernt man das Blendwerk des Scheins nä-
her kennen, wenn man bey jedem Jrrthum, den man
entdeckt, sorgfältiger untersucht, woher er gekommen.
Denn es laufen immer Sätze mit unter, die wahr ge-
schienen haben, und je allgemeiner diese sind, auf desto
mehrere Fälle breitet sich auch der Schein der Wahr-
heit aus, den man eben deswegen, weil er leer ist, zu
vermeiden hat. Von solcher Art Sätze sind die Vor-
urtheile
und vorgefaßten Meynungen, wodurch
man am häufigsten zu Jrrthümern verleitet wird, weil
sie allem, was man aus denselben oder mittelst derselben
schließt, den Schein der Wahrheit geben, und folglich
mit den subjectiven Ursachen des sinnlichen Scheins viel
gemein haben (§. 56.).

§. 116. Ein höherer Grad des psychologischen
Scheins, so fern er nur Schein ist, wird spe[s]ios genennt.
Man gebraucht diese Benennung vornehmlich, wenn
jemand einer ganz oder zum Theil irrigen Meynung
das Ansehen der Wahrheit zu geben sucht, und dazu
viele scheinbare Argumente aufhäuft. Geschieht dieses
wissentlich und mit dem Vorsatz, einem andern die ir-
rige Meynung oder Aussage, nach welcher er seine Ent-
schließungen richten würde, glaublich zu machen, so sagt
man, daß er ihm einen blauen Dunst vor die Au-
gen mache,
oder ihn hinter das Licht führe, zu-
mal wenn man mit den Worten noch Werke und An-
stalten verbindet, den Fallstrick noch scheinbarer zu

ver-
T 2

Von dem pſychologiſchen Schein.
vollſtaͤndig beſtimmt hat. Denn da muͤſſen wir alles
zuſammennehmen, was in dem Menſchen ſelbſt ein
Grund iſt, warum er ſich eine Sache vielmehr ſo, als
anders vorſtellt. Die genauere Einſicht in verſchiedene
Arten von Sachen, haͤngt von den natuͤrlichen Faͤhig-
keiten, von den durch Uebung erlangten Fertigkeiten der
Kraͤfte des Verſtandes, und von der durch Erfahrung
und Theorie erlangten Erkenntniß derſelben ab. Und
uͤberhaupt lernt man das Blendwerk des Scheins naͤ-
her kennen, wenn man bey jedem Jrrthum, den man
entdeckt, ſorgfaͤltiger unterſucht, woher er gekommen.
Denn es laufen immer Saͤtze mit unter, die wahr ge-
ſchienen haben, und je allgemeiner dieſe ſind, auf deſto
mehrere Faͤlle breitet ſich auch der Schein der Wahr-
heit aus, den man eben deswegen, weil er leer iſt, zu
vermeiden hat. Von ſolcher Art Saͤtze ſind die Vor-
urtheile
und vorgefaßten Meynungen, wodurch
man am haͤufigſten zu Jrrthuͤmern verleitet wird, weil
ſie allem, was man aus denſelben oder mittelſt derſelben
ſchließt, den Schein der Wahrheit geben, und folglich
mit den ſubjectiven Urſachen des ſinnlichen Scheins viel
gemein haben (§. 56.).

§. 116. Ein hoͤherer Grad des pſychologiſchen
Scheins, ſo fern er nur Schein iſt, wird ſpe[s]ios genennt.
Man gebraucht dieſe Benennung vornehmlich, wenn
jemand einer ganz oder zum Theil irrigen Meynung
das Anſehen der Wahrheit zu geben ſucht, und dazu
viele ſcheinbare Argumente aufhaͤuft. Geſchieht dieſes
wiſſentlich und mit dem Vorſatz, einem andern die ir-
rige Meynung oder Ausſage, nach welcher er ſeine Ent-
ſchließungen richten wuͤrde, glaublich zu machen, ſo ſagt
man, daß er ihm einen blauen Dunſt vor die Au-
gen mache,
oder ihn hinter das Licht fuͤhre, zu-
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[291/0297] Von dem pſychologiſchen Schein. vollſtaͤndig beſtimmt hat. Denn da muͤſſen wir alles zuſammennehmen, was in dem Menſchen ſelbſt ein Grund iſt, warum er ſich eine Sache vielmehr ſo, als anders vorſtellt. Die genauere Einſicht in verſchiedene Arten von Sachen, haͤngt von den natuͤrlichen Faͤhig- keiten, von den durch Uebung erlangten Fertigkeiten der Kraͤfte des Verſtandes, und von der durch Erfahrung und Theorie erlangten Erkenntniß derſelben ab. Und uͤberhaupt lernt man das Blendwerk des Scheins naͤ- her kennen, wenn man bey jedem Jrrthum, den man entdeckt, ſorgfaͤltiger unterſucht, woher er gekommen. Denn es laufen immer Saͤtze mit unter, die wahr ge- ſchienen haben, und je allgemeiner dieſe ſind, auf deſto mehrere Faͤlle breitet ſich auch der Schein der Wahr- heit aus, den man eben deswegen, weil er leer iſt, zu vermeiden hat. Von ſolcher Art Saͤtze ſind die Vor- urtheile und vorgefaßten Meynungen, wodurch man am haͤufigſten zu Jrrthuͤmern verleitet wird, weil ſie allem, was man aus denſelben oder mittelſt derſelben ſchließt, den Schein der Wahrheit geben, und folglich mit den ſubjectiven Urſachen des ſinnlichen Scheins viel gemein haben (§. 56.). §. 116. Ein hoͤherer Grad des pſychologiſchen Scheins, ſo fern er nur Schein iſt, wird ſpesios genennt. Man gebraucht dieſe Benennung vornehmlich, wenn jemand einer ganz oder zum Theil irrigen Meynung das Anſehen der Wahrheit zu geben ſucht, und dazu viele ſcheinbare Argumente aufhaͤuft. Geſchieht dieſes wiſſentlich und mit dem Vorſatz, einem andern die ir- rige Meynung oder Ausſage, nach welcher er ſeine Ent- ſchließungen richten wuͤrde, glaublich zu machen, ſo ſagt man, daß er ihm einen blauen Dunſt vor die Au- gen mache, oder ihn hinter das Licht fuͤhre, zu- mal wenn man mit den Worten noch Werke und An- ſtalten verbindet, den Fallſtrick noch ſcheinbarer zu ver- T 2

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/297>, abgerufen am 20.05.2024.