tung ebenfalls auf die Selbstliebe angewandt werden müsse, wenn man im Ernst darauf denken will, das Gute, so man an sich liebt, durch Ausbesserung der Feh- ler zu vergrößern.
§. 148. Wenn sich mit einem wahren oder irrigen Satze Affecten verbinden, so dehnen sich diese gemeinig- lich auch auf diejenigen Sätze aus, die man mit dem vorgegebenen Satze in Zusammenhang zu seyn glaubt, besonders aber auf die, von welchen derselbe abzuhän- gen scheint. Daher kömmt es, daß man unvermerkt Liebe und Haß auf ganze Systemen ausbreitet, und zwar nicht selten mit einer merklichen Uebereilung. Der vorgegebene Satz sey A. Wer nun denselben gern für wahr hält, oder wünscht, daß er wahr sey, wird auch geneigter seyn, die Vordersätze einzuräumen, aus wel- chen er als ein Schlußsatz folgt, und eben so wird er auch leichter zugeben, was vermittelst anderer Sätze B daraus geschlossen werden kann, oder wenn der Schluß- satz widrig ist, so wird er ehender den Satz B als den Satz A in Zweifel ziehen. Auf diese Art können ei- nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen und verworfen werden, und es kömmt unvermerkt zu einem System. Jst nun der Satz A jemand zuwider, so wird er ordentlich die Vordersätze zu dessen Beweis in Zweifel ziehen, und die Sätze B behaupten, welche eine richtige oder scheinbare Deductionem ad absur- dum angeben. Jndessen ist mit dem bloßen Läugnen der Vordersätze, woraus A geschlossen wird, A noch nicht umgestoßen, und mit dem Läugnen des Satzes A fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil diese aus andern Gründen dennoch wahr seyn können (Dianoiol. §. 243. seqq.). Da die Theorie des Zu- sammenhanges der Sätze in der Vernunftlehre aus- führlich entwickelt ist, so ist es desto unverantwortlicher, wenn man wegen einiger Sätze sich so gleich von den
Affecten
Von dem moraliſchen Schein.
tung ebenfalls auf die Selbſtliebe angewandt werden muͤſſe, wenn man im Ernſt darauf denken will, das Gute, ſo man an ſich liebt, durch Ausbeſſerung der Feh- ler zu vergroͤßern.
§. 148. Wenn ſich mit einem wahren oder irrigen Satze Affecten verbinden, ſo dehnen ſich dieſe gemeinig- lich auch auf diejenigen Saͤtze aus, die man mit dem vorgegebenen Satze in Zuſammenhang zu ſeyn glaubt, beſonders aber auf die, von welchen derſelbe abzuhaͤn- gen ſcheint. Daher koͤmmt es, daß man unvermerkt Liebe und Haß auf ganze Syſtemen ausbreitet, und zwar nicht ſelten mit einer merklichen Uebereilung. Der vorgegebene Satz ſey A. Wer nun denſelben gern fuͤr wahr haͤlt, oder wuͤnſcht, daß er wahr ſey, wird auch geneigter ſeyn, die Vorderſaͤtze einzuraͤumen, aus wel- chen er als ein Schlußſatz folgt, und eben ſo wird er auch leichter zugeben, was vermittelſt anderer Saͤtze B daraus geſchloſſen werden kann, oder wenn der Schluß- ſatz widrig iſt, ſo wird er ehender den Satz B als den Satz A in Zweifel ziehen. Auf dieſe Art koͤnnen ei- nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen und verworfen werden, und es koͤmmt unvermerkt zu einem Syſtem. Jſt nun der Satz A jemand zuwider, ſo wird er ordentlich die Vorderſaͤtze zu deſſen Beweis in Zweifel ziehen, und die Saͤtze B behaupten, welche eine richtige oder ſcheinbare Deductionem ad abſur- dum angeben. Jndeſſen iſt mit dem bloßen Laͤugnen der Vorderſaͤtze, woraus A geſchloſſen wird, A noch nicht umgeſtoßen, und mit dem Laͤugnen des Satzes A fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil dieſe aus andern Gruͤnden dennoch wahr ſeyn koͤnnen (Dianoiol. §. 243. ſeqq.). Da die Theorie des Zu- ſammenhanges der Saͤtze in der Vernunftlehre aus- fuͤhrlich entwickelt iſt, ſo iſt es deſto unverantwortlicher, wenn man wegen einiger Saͤtze ſich ſo gleich von den
Affecten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0323"n="317"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von dem moraliſchen Schein.</hi></fw><lb/>
tung ebenfalls auf die Selbſtliebe angewandt werden<lb/>
muͤſſe, wenn man im Ernſt darauf denken will, das<lb/>
Gute, ſo man an ſich liebt, durch Ausbeſſerung der Feh-<lb/>
ler zu vergroͤßern.</p><lb/><p>§. 148. Wenn ſich mit einem wahren oder irrigen<lb/>
Satze Affecten verbinden, ſo dehnen ſich dieſe gemeinig-<lb/>
lich auch auf diejenigen Saͤtze aus, die man mit dem<lb/>
vorgegebenen Satze in Zuſammenhang zu ſeyn glaubt,<lb/>
beſonders aber auf die, von welchen derſelbe abzuhaͤn-<lb/>
gen ſcheint. Daher koͤmmt es, daß man unvermerkt<lb/>
Liebe und Haß auf ganze Syſtemen ausbreitet, und<lb/>
zwar nicht ſelten mit einer merklichen Uebereilung. Der<lb/>
vorgegebene Satz ſey <hirendition="#aq">A.</hi> Wer nun denſelben gern fuͤr<lb/>
wahr haͤlt, oder wuͤnſcht, daß er wahr ſey, wird auch<lb/>
geneigter ſeyn, die Vorderſaͤtze einzuraͤumen, aus wel-<lb/>
chen er als ein Schlußſatz folgt, und eben ſo wird er<lb/>
auch leichter zugeben, was vermittelſt anderer Saͤtze <hirendition="#aq">B</hi><lb/>
daraus geſchloſſen werden kann, oder wenn der Schluß-<lb/>ſatz widrig iſt, ſo wird er ehender den Satz <hirendition="#aq">B</hi> als den<lb/>
Satz <hirendition="#aq">A</hi> in Zweifel ziehen. Auf dieſe Art koͤnnen ei-<lb/>
nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen<lb/>
und verworfen werden, und es koͤmmt unvermerkt zu<lb/>
einem Syſtem. Jſt nun der Satz <hirendition="#aq">A</hi> jemand zuwider,<lb/>ſo wird er ordentlich die Vorderſaͤtze zu deſſen Beweis<lb/>
in Zweifel ziehen, und die Saͤtze <hirendition="#aq">B</hi> behaupten, welche<lb/>
eine richtige oder ſcheinbare <hirendition="#aq">Deductionem ad abſur-<lb/>
dum</hi> angeben. Jndeſſen iſt mit dem bloßen Laͤugnen<lb/>
der Vorderſaͤtze, woraus <hirendition="#aq">A</hi> geſchloſſen wird, <hirendition="#aq">A</hi> noch<lb/>
nicht umgeſtoßen, und mit dem Laͤugnen des Satzes <hirendition="#aq">A</hi><lb/>
fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil<lb/>
dieſe aus andern Gruͤnden dennoch wahr ſeyn koͤnnen<lb/>
(Dianoiol. §. 243. <hirendition="#aq">ſeqq.</hi>). Da die Theorie des Zu-<lb/>ſammenhanges der Saͤtze in der Vernunftlehre aus-<lb/>
fuͤhrlich entwickelt iſt, ſo iſt es deſto unverantwortlicher,<lb/>
wenn man wegen einiger Saͤtze ſich ſo gleich von den<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Affecten</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[317/0323]
Von dem moraliſchen Schein.
tung ebenfalls auf die Selbſtliebe angewandt werden
muͤſſe, wenn man im Ernſt darauf denken will, das
Gute, ſo man an ſich liebt, durch Ausbeſſerung der Feh-
ler zu vergroͤßern.
§. 148. Wenn ſich mit einem wahren oder irrigen
Satze Affecten verbinden, ſo dehnen ſich dieſe gemeinig-
lich auch auf diejenigen Saͤtze aus, die man mit dem
vorgegebenen Satze in Zuſammenhang zu ſeyn glaubt,
beſonders aber auf die, von welchen derſelbe abzuhaͤn-
gen ſcheint. Daher koͤmmt es, daß man unvermerkt
Liebe und Haß auf ganze Syſtemen ausbreitet, und
zwar nicht ſelten mit einer merklichen Uebereilung. Der
vorgegebene Satz ſey A. Wer nun denſelben gern fuͤr
wahr haͤlt, oder wuͤnſcht, daß er wahr ſey, wird auch
geneigter ſeyn, die Vorderſaͤtze einzuraͤumen, aus wel-
chen er als ein Schlußſatz folgt, und eben ſo wird er
auch leichter zugeben, was vermittelſt anderer Saͤtze B
daraus geſchloſſen werden kann, oder wenn der Schluß-
ſatz widrig iſt, ſo wird er ehender den Satz B als den
Satz A in Zweifel ziehen. Auf dieſe Art koͤnnen ei-
nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen
und verworfen werden, und es koͤmmt unvermerkt zu
einem Syſtem. Jſt nun der Satz A jemand zuwider,
ſo wird er ordentlich die Vorderſaͤtze zu deſſen Beweis
in Zweifel ziehen, und die Saͤtze B behaupten, welche
eine richtige oder ſcheinbare Deductionem ad abſur-
dum angeben. Jndeſſen iſt mit dem bloßen Laͤugnen
der Vorderſaͤtze, woraus A geſchloſſen wird, A noch
nicht umgeſtoßen, und mit dem Laͤugnen des Satzes A
fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil
dieſe aus andern Gruͤnden dennoch wahr ſeyn koͤnnen
(Dianoiol. §. 243. ſeqq.). Da die Theorie des Zu-
ſammenhanges der Saͤtze in der Vernunftlehre aus-
fuͤhrlich entwickelt iſt, ſo iſt es deſto unverantwortlicher,
wenn man wegen einiger Saͤtze ſich ſo gleich von den
Affecten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/323>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.