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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem Wahrscheinlichen.
trachtet. Wir halten uns demnach hier dabey nicht auf:
sondern merken nur an, daß, da man für und wi-
der einen Satz nicht zugleich wahre Gründe
haben kann, so fern er ein Object des Verstan-
des ist, es hingegen für und wider denselben
wahre Gründe geben könne, so fern man ihn
als ein Object des Willens betrachtet.
Näm-
lich, so fern man für und wider die Wahrheit eines
Satzes Gründe hat, so ist derselbe nur noch wahrschein-
lich, an sich aber nothwendig entweder wahr oder falsch.
Beyde Arten von Gründen sind oder scheinen wenig-
stens noch unvollständig, und welche von beyden einer
Vollständigkeit fähig sind, so bleibt in den andern noth-
wendig Unvollständigkeit zurücke. Jst aber der Satz
ein Object des Willens, so kann es wahre Gründe für
und wider denselben geben. Denn so fern darinn dem
Willen etwas als gut vorgestellt wird, so bleibt beson-
ders in einzeln Fällen die Frage: ob es das Bessere
oder das Beste sey? Dieses zieht nun eine Betrach-
tung der Folgen, und die Vergleichung des Gewählten
oder Vorgeschlagenen mit dem, was man statt dessen
wählen oder vorschlagen könnte, nach sich. Bey allem
diesem aber kann in Absicht auf den Verstand Schein,
Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Jrrthum, Ungewißheit
und Unbestimmtheit vorkommen. Daher sind die Ar-
gumente für den Willen auch allerdings Argumente für
den Verstand. Und die Beweise, so man darüber führt
oder daraus zusammensetzt, sind die eigentlich oder dem
Buchstaben nach so genannten moralischen Bewei-
se,
deren Begriff aber, wenn man das Wort metapho-
risch macht, ungleich ausgedehnter wird (§. 174.).

§. 230. Die Argumente für den Willen werden
eigentlich da gebraucht, wo man untersucht, ob man sich
zu etwas entschließen solle, oder auch, wo man andere
dazu bereden will. Sie müssen demnach gewiß oder

wahr-
B b 3

Von dem Wahrſcheinlichen.
trachtet. Wir halten uns demnach hier dabey nicht auf:
ſondern merken nur an, daß, da man fuͤr und wi-
der einen Satz nicht zugleich wahre Gruͤnde
haben kann, ſo fern er ein Object des Verſtan-
des iſt, es hingegen fuͤr und wider denſelben
wahre Gruͤnde geben koͤnne, ſo fern man ihn
als ein Object des Willens betrachtet.
Naͤm-
lich, ſo fern man fuͤr und wider die Wahrheit eines
Satzes Gruͤnde hat, ſo iſt derſelbe nur noch wahrſchein-
lich, an ſich aber nothwendig entweder wahr oder falſch.
Beyde Arten von Gruͤnden ſind oder ſcheinen wenig-
ſtens noch unvollſtaͤndig, und welche von beyden einer
Vollſtaͤndigkeit faͤhig ſind, ſo bleibt in den andern noth-
wendig Unvollſtaͤndigkeit zuruͤcke. Jſt aber der Satz
ein Object des Willens, ſo kann es wahre Gruͤnde fuͤr
und wider denſelben geben. Denn ſo fern darinn dem
Willen etwas als gut vorgeſtellt wird, ſo bleibt beſon-
ders in einzeln Faͤllen die Frage: ob es das Beſſere
oder das Beſte ſey? Dieſes zieht nun eine Betrach-
tung der Folgen, und die Vergleichung des Gewaͤhlten
oder Vorgeſchlagenen mit dem, was man ſtatt deſſen
waͤhlen oder vorſchlagen koͤnnte, nach ſich. Bey allem
dieſem aber kann in Abſicht auf den Verſtand Schein,
Wahrheit, Wahrſcheinlichkeit, Jrrthum, Ungewißheit
und Unbeſtimmtheit vorkommen. Daher ſind die Ar-
gumente fuͤr den Willen auch allerdings Argumente fuͤr
den Verſtand. Und die Beweiſe, ſo man daruͤber fuͤhrt
oder daraus zuſammenſetzt, ſind die eigentlich oder dem
Buchſtaben nach ſo genannten moraliſchen Bewei-
ſe,
deren Begriff aber, wenn man das Wort metapho-
riſch macht, ungleich ausgedehnter wird (§. 174.).

§. 230. Die Argumente fuͤr den Willen werden
eigentlich da gebraucht, wo man unterſucht, ob man ſich
zu etwas entſchließen ſolle, oder auch, wo man andere
dazu bereden will. Sie muͤſſen demnach gewiß oder

wahr-
B b 3
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[389/0395] Von dem Wahrſcheinlichen. trachtet. Wir halten uns demnach hier dabey nicht auf: ſondern merken nur an, daß, da man fuͤr und wi- der einen Satz nicht zugleich wahre Gruͤnde haben kann, ſo fern er ein Object des Verſtan- des iſt, es hingegen fuͤr und wider denſelben wahre Gruͤnde geben koͤnne, ſo fern man ihn als ein Object des Willens betrachtet. Naͤm- lich, ſo fern man fuͤr und wider die Wahrheit eines Satzes Gruͤnde hat, ſo iſt derſelbe nur noch wahrſchein- lich, an ſich aber nothwendig entweder wahr oder falſch. Beyde Arten von Gruͤnden ſind oder ſcheinen wenig- ſtens noch unvollſtaͤndig, und welche von beyden einer Vollſtaͤndigkeit faͤhig ſind, ſo bleibt in den andern noth- wendig Unvollſtaͤndigkeit zuruͤcke. Jſt aber der Satz ein Object des Willens, ſo kann es wahre Gruͤnde fuͤr und wider denſelben geben. Denn ſo fern darinn dem Willen etwas als gut vorgeſtellt wird, ſo bleibt beſon- ders in einzeln Faͤllen die Frage: ob es das Beſſere oder das Beſte ſey? Dieſes zieht nun eine Betrach- tung der Folgen, und die Vergleichung des Gewaͤhlten oder Vorgeſchlagenen mit dem, was man ſtatt deſſen waͤhlen oder vorſchlagen koͤnnte, nach ſich. Bey allem dieſem aber kann in Abſicht auf den Verſtand Schein, Wahrheit, Wahrſcheinlichkeit, Jrrthum, Ungewißheit und Unbeſtimmtheit vorkommen. Daher ſind die Ar- gumente fuͤr den Willen auch allerdings Argumente fuͤr den Verſtand. Und die Beweiſe, ſo man daruͤber fuͤhrt oder daraus zuſammenſetzt, ſind die eigentlich oder dem Buchſtaben nach ſo genannten moraliſchen Bewei- ſe, deren Begriff aber, wenn man das Wort metapho- riſch macht, ungleich ausgedehnter wird (§. 174.). §. 230. Die Argumente fuͤr den Willen werden eigentlich da gebraucht, wo man unterſucht, ob man ſich zu etwas entſchließen ſolle, oder auch, wo man andere dazu bereden will. Sie muͤſſen demnach gewiß oder wahr- B b 3

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/395>, abgerufen am 22.11.2024.