Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.Cap. 1, v. 9. an die Philipper. [Spaltenumbruch]
V. 9. Und daselbst um bete ich, daß eure Anmerckungen. 1. Je länger, ie lieber, ie besser und ie weiter muß es im Christenthum heissen. Wer darinnen nicht zunimt, der nimt ab. Zum we- nigsten ist das stille stehen nicht rechter Art. Wird man doch dem natürlichen Alter nach von Zeit zu Zeit in der Jugend stärcker an Kräften; warum solte es nicht auch also im geistlichen Al- ter des Christenthums gehen? Wie sehr Pau- lus darauf dringet, ist aus allen seinen Briefen bekant, sonderlich aus dem an die Ephesier c. 4, 13. u. f. 6, 10. u. f. 2. Da die Seele die beyden Haupt-Kräf- te hat, Verstand und Willen, so muß an bey- den der Wachsthum sich hervorthun. Paulus füget alhier beydes zusammen. Denn die Lie- be gehet auf den Willen, und die Erkäntniß auf den Verstand, die Erfahrung auf bey- des zugleich. 3. Das gemeinschaftliche Zunehmen am Verstande und Willen läßt sich unmöglich von einander trennen, so wenig in der Seele, die nur ein einiges Wesen ist, und aus Verstand und Willen bestehet, eine Haupt-Kraft von der andern kan getrennet werden. 4. Beydes hebet sich zugleich an: beydes gehet mit einander fort im Zunehmen. Denn so bald nach, oder bey einigem buchstäblichen Begriff von der göttlichen Wahrheit der Wille durch die Gnade GOTTes zur Bekehrung gerühret wird, so bald gehet auch im Verstande, über dem bloß buchstäblichen Concept von göttlichen Dingen, ein Funcke und Blick des göttlichen Lichts auf: und ie stärcker die Rührung des Willens wird, ie stärcker wird auch der über- natürliche Lichts-Funcke: und kömmt es im Willen zur völligen Bekehrung und also auch zum geistlichen Leben; so kömmt es auch im Ver- stande zum rechten Lichte und zur Erleuchtung: das ist, es kömmt in dem Menschen zum Glau- ben, der ein göttliches Leben und ein göttli- ches Licht in der Seelen ist. 5. Und ob denn gleich beydes der Zeit nach unzertrennlich bey einander ist; so dependiret doch der Natur nach eines von dem andern, und zwar das Licht vom Leben, nicht aber das Le- ben vom Lichte: Gleichwie auch im Reiche der Natur nicht das Leben vom Lichte, sondern das Licht vom Leben dependiret. Denn gleichwie das sehen, oder der natürliche Gebrauch der Augen, das Leben zum Grunde hat, sich vermöge des Lebens anhebet, und mit dem Le- ben im Tode auch aufhöret: also verhält es sich auch im Reiche der Gnaden. Wo sich das geistliche Leben anhebet, da hebet sich auch das geistliche Licht mit an, sintemal der Glaube, wie schon gedacht, beydes ist; und ist, erleuch- tet seyn, oder den rechten Gebrauch seines geist- lichen Gesichtes haben, und zur Beurtheilung göttlicher Dinge anwenden, eine Ubung des [Spaltenumbruch] geistlichen Lebens. Darauf auch Johannes ge- het, wenn er c. 1, 4. von CHristo spricht: Jn ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 6. Verlieret einer nun das geistliche Le- ben, so verlieret er auch das geistliche Licht, und behält nichts, als eine bloß buchstäbliche Erkäntniß göttlicher Dinge. Wie es also oh- ne Zweifel bey den ersten Menschen ergangen ist, daß sie nemlich, da sie das Ebenbild GOTTes und mit demselben das geistliche Leben verloh- ren haben, auch des geistlichen Lichts sind ver- lustig worden. Denn wer wolte doch immer mehr sagen, daß sie zwar in Sünden erstorben, aber doch wahrhäftig erleuchtet geblieben, und also das Ebenbild GOttes nur halb, nemlich bloß im Willen, verlohren, im Verstande aber behalten hätten? 7. Es ist aber wohl zu mercken, wie das eines das andere befordert und zu mehrern Wachsthum bringet, nicht allein der immer mehr geheiligte Wille die mehrere Aufklärung des Verstandes, sondern auch diese die mehrere Reinigung und Thätigkeit des Willens. Dar- um der Apostel wünschet, daß der Philipper ih- re Liebe immer mehr und mehr reich werden solte in aller Erkäntniß; das ist dann die Er- käntniß. Denn gleichwie die mehrere Heili- gung des Willens die Decke der Vorurtheile und Jrrthümer immer mehr vom Verstande hinweg nimt, daß dieser sodenn göttliche Dinge viel eigentlicher und richtiger einsiehet: also verur- sachet eine solche mehrere Einsicht bey einem er- weckten und zarten Gewissen auch immer mehr Treue zur Ausübung dessen, was man genauer erkennet. 8. Aus solcher Beschaffenheit der Erkänt- niß und ihrer genauesten Verbindung mit der Heiligung des Willens, siehet man leicht- lich, woher es komme, daß das Wort erken- nen, Erkäntniß u. s. w. wenn von einer wah- ren Erkäntniß göttlicher Dinge die Rede ist, al- lezeit mit einem grossen Nachdrucke stehe, und dadurch eine recht lebendige, geheiligte und thä- tige Erkäntniß verstanden werde, wenn auch der Heiligung des Willens nicht dabey gedacht wird. Denn die Sache selbst bringet es also mit sich. 9. Es sind über das im obigen Texte die beyden Worte pase aisthesei, nach ihrem Nachdrucke wohl zu mercken. Da wir denn zu erwegen haben a. Woher sie genommen sind. Aisthesis heißt eigentlich eine Empfindung, welche man in den Gliedmassen der Sinnen, son- derlich des Geschmacks und des Gefühles hat, und welche zur Erkäntniß und Beurtheilung eines cörperlichen Dinges nöthig ist. Denn z. E. die Speise und den Tranck, die Frucht eines Baumes, die Art eines Gewächses er- kennet man theils am Geruch, theils, und am meisten, am Geschmack. Und ist diese Em- pfindung, welche dadurch geschiehet, daß durch solche Dinge die Gliedmassen der Sin- ne wircklich und genugsam berühret werden, so nöthig, daß ohne dieselbe unmüglich ei- ne S s s s 3
Cap. 1, v. 9. an die Philipper. [Spaltenumbruch]
V. 9. Und daſelbſt um bete ich, daß eure Anmerckungen. 1. Je laͤnger, ie lieber, ie beſſer und ie weiter muß es im Chriſtenthum heiſſen. Wer darinnen nicht zunimt, der nimt ab. Zum we- nigſten iſt das ſtille ſtehen nicht rechter Art. Wird man doch dem natuͤrlichen Alter nach von Zeit zu Zeit in der Jugend ſtaͤrcker an Kraͤften; warum ſolte es nicht auch alſo im geiſtlichen Al- ter des Chriſtenthums gehen? Wie ſehr Pau- lus darauf dringet, iſt aus allen ſeinen Briefen bekant, ſonderlich aus dem an die Epheſier c. 4, 13. u. f. 6, 10. u. f. 2. Da die Seele die beyden Haupt-Kraͤf- te hat, Verſtand und Willen, ſo muß an bey- den der Wachsthum ſich hervorthun. Paulus fuͤget alhier beydes zuſammen. Denn die Lie- be gehet auf den Willen, und die Erkaͤntniß auf den Verſtand, die Erfahrung auf bey- des zugleich. 3. Das gemeinſchaftliche Zunehmen am Verſtande und Willen laͤßt ſich unmoͤglich von einander trennen, ſo wenig in der Seele, die nur ein einiges Weſen iſt, und aus Verſtand und Willen beſtehet, eine Haupt-Kraft von der andern kan getrennet werden. 4. Beydes hebet ſich zugleich an: beydes gehet mit einander fort im Zunehmen. Denn ſo bald nach, oder bey einigem buchſtaͤblichen Begriff von der goͤttlichen Wahrheit der Wille durch die Gnade GOTTes zur Bekehrung geruͤhret wird, ſo bald gehet auch im Verſtande, uͤber dem bloß buchſtaͤblichen Concept von goͤttlichen Dingen, ein Funcke und Blick des goͤttlichen Lichts auf: und ie ſtaͤrcker die Ruͤhrung des Willens wird, ie ſtaͤrcker wird auch der uͤber- natuͤrliche Lichts-Funcke: und koͤmmt es im Willen zur voͤlligen Bekehrung und alſo auch zum geiſtlichen Leben; ſo koͤmmt es auch im Ver- ſtande zum rechten Lichte und zur Erleuchtung: das iſt, es koͤmmt in dem Menſchen zum Glau- ben, der ein goͤttliches Leben und ein goͤttli- ches Licht in der Seelen iſt. 5. Und ob denn gleich beydes der Zeit nach unzertrennlich bey einander iſt; ſo dependiret doch der Natur nach eines von dem andern, und zwar das Licht vom Leben, nicht aber das Le- ben vom Lichte: Gleichwie auch im Reiche der Natur nicht das Leben vom Lichte, ſondern das Licht vom Leben dependiret. Denn gleichwie das ſehen, oder der natuͤrliche Gebrauch der Augen, das Leben zum Grunde hat, ſich vermoͤge des Lebens anhebet, und mit dem Le- ben im Tode auch aufhoͤret: alſo verhaͤlt es ſich auch im Reiche der Gnaden. Wo ſich das geiſtliche Leben anhebet, da hebet ſich auch das geiſtliche Licht mit an, ſintemal der Glaube, wie ſchon gedacht, beydes iſt; und iſt, erleuch- tet ſeyn, oder den rechten Gebrauch ſeines geiſt- lichen Geſichtes haben, und zur Beurtheilung goͤttlicher Dinge anwenden, eine Ubung des [Spaltenumbruch] geiſtlichen Lebens. Darauf auch Johannes ge- het, wenn er c. 1, 4. von CHriſto ſpricht: Jn ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menſchen. 6. Verlieret einer nun das geiſtliche Le- ben, ſo verlieret er auch das geiſtliche Licht, und behaͤlt nichts, als eine bloß buchſtaͤbliche Erkaͤntniß goͤttlicher Dinge. Wie es alſo oh- ne Zweifel bey den erſten Menſchen ergangen iſt, daß ſie nemlich, da ſie das Ebenbild GOTTes und mit demſelben das geiſtliche Leben verloh- ren haben, auch des geiſtlichen Lichts ſind ver- luſtig worden. Denn wer wolte doch immer mehr ſagen, daß ſie zwar in Suͤnden erſtorben, aber doch wahrhaͤftig erleuchtet geblieben, und alſo das Ebenbild GOttes nur halb, nemlich bloß im Willen, verlohren, im Verſtande aber behalten haͤtten? 7. Es iſt aber wohl zu mercken, wie das eines das andere befordert und zu mehrern Wachsthum bringet, nicht allein der immer mehr geheiligte Wille die mehrere Aufklaͤrung des Verſtandes, ſondern auch dieſe die mehrere Reinigung und Thaͤtigkeit des Willens. Dar- um der Apoſtel wuͤnſchet, daß der Philipper ih- re Liebe immer mehr und mehr reich werden ſolte in aller Erkaͤntniß; das iſt dann die Er- kaͤntniß. Denn gleichwie die mehrere Heili- gung des Willens die Decke der Vorurtheile und Jrrthuͤmer immer mehr vom Verſtande hinweg nimt, daß dieſer ſodenn goͤttliche Dinge viel eigentlicher und richtiger einſiehet: alſo verur- ſachet eine ſolche mehrere Einſicht bey einem er- weckten und zarten Gewiſſen auch immer mehr Treue zur Ausuͤbung deſſen, was man genauer erkennet. 8. Aus ſolcher Beſchaffenheit der Erkaͤnt- niß und ihrer genaueſten Verbindung mit der Heiligung des Willens, ſiehet man leicht- lich, woher es komme, daß das Wort erken- nen, Erkaͤntniß u. ſ. w. wenn von einer wah- ren Erkaͤntniß goͤttlicher Dinge die Rede iſt, al- lezeit mit einem groſſen Nachdrucke ſtehe, und dadurch eine recht lebendige, geheiligte und thaͤ- tige Erkaͤntniß verſtanden werde, wenn auch der Heiligung des Willens nicht dabey gedacht wird. Denn die Sache ſelbſt bringet es alſo mit ſich. 9. Es ſind uͤber das im obigen Texte die beyden Worte πάσῃ ἀισϑἡσει, nach ihrem Nachdrucke wohl zu mercken. Da wir denn zu erwegen haben a. Woher ſie genommen ſind. Ἄισϑησις heißt eigentlich eine Empfindung, welche man in den Gliedmaſſen der Sinnen, ſon- derlich des Geſchmacks und des Gefuͤhles hat, und welche zur Erkaͤntniß und Beurtheilung eines coͤrperlichen Dinges noͤthig iſt. Denn z. E. die Speiſe und den Tranck, die Frucht eines Baumes, die Art eines Gewaͤchſes er- kennet man theils am Geruch, theils, und am meiſten, am Geſchmack. Und iſt dieſe Em- pfindung, welche dadurch geſchiehet, daß durch ſolche Dinge die Gliedmaſſen der Sin- ne wircklich und genugſam beruͤhret werden, ſo noͤthig, daß ohne dieſelbe unmuͤglich ei- ne S s s s 3
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Cap. 1, v. 9. an die Philipper.
V. 9.
Und daſelbſt um bete ich, daß eure
Liebe ie mehr und mehr reich werde in al-
lerley Erkaͤntniß und Erfahrung.
Anmerckungen.
1. Je laͤnger, ie lieber, ie beſſer und ie
weiter muß es im Chriſtenthum heiſſen. Wer
darinnen nicht zunimt, der nimt ab. Zum we-
nigſten iſt das ſtille ſtehen nicht rechter Art.
Wird man doch dem natuͤrlichen Alter nach von
Zeit zu Zeit in der Jugend ſtaͤrcker an Kraͤften;
warum ſolte es nicht auch alſo im geiſtlichen Al-
ter des Chriſtenthums gehen? Wie ſehr Pau-
lus darauf dringet, iſt aus allen ſeinen Briefen
bekant, ſonderlich aus dem an die Epheſier c. 4,
13. u. f. 6, 10. u. f.
2. Da die Seele die beyden Haupt-Kraͤf-
te hat, Verſtand und Willen, ſo muß an bey-
den der Wachsthum ſich hervorthun. Paulus
fuͤget alhier beydes zuſammen. Denn die Lie-
be gehet auf den Willen, und die Erkaͤntniß
auf den Verſtand, die Erfahrung auf bey-
des zugleich.
3. Das gemeinſchaftliche Zunehmen am
Verſtande und Willen laͤßt ſich unmoͤglich von
einander trennen, ſo wenig in der Seele, die
nur ein einiges Weſen iſt, und aus Verſtand
und Willen beſtehet, eine Haupt-Kraft von der
andern kan getrennet werden.
4. Beydes hebet ſich zugleich an: beydes
gehet mit einander fort im Zunehmen. Denn ſo
bald nach, oder bey einigem buchſtaͤblichen Begriff
von der goͤttlichen Wahrheit der Wille durch
die Gnade GOTTes zur Bekehrung geruͤhret
wird, ſo bald gehet auch im Verſtande, uͤber
dem bloß buchſtaͤblichen Concept von goͤttlichen
Dingen, ein Funcke und Blick des goͤttlichen
Lichts auf: und ie ſtaͤrcker die Ruͤhrung des
Willens wird, ie ſtaͤrcker wird auch der uͤber-
natuͤrliche Lichts-Funcke: und koͤmmt es im
Willen zur voͤlligen Bekehrung und alſo auch
zum geiſtlichen Leben; ſo koͤmmt es auch im Ver-
ſtande zum rechten Lichte und zur Erleuchtung:
das iſt, es koͤmmt in dem Menſchen zum Glau-
ben, der ein goͤttliches Leben und ein goͤttli-
ches Licht in der Seelen iſt.
5. Und ob denn gleich beydes der Zeit nach
unzertrennlich bey einander iſt; ſo dependiret
doch der Natur nach eines von dem andern, und
zwar das Licht vom Leben, nicht aber das Le-
ben vom Lichte: Gleichwie auch im Reiche der
Natur nicht das Leben vom Lichte, ſondern das
Licht vom Leben dependiret. Denn gleichwie
das ſehen, oder der natuͤrliche Gebrauch der
Augen, das Leben zum Grunde hat, ſich
vermoͤge des Lebens anhebet, und mit dem Le-
ben im Tode auch aufhoͤret: alſo verhaͤlt es ſich
auch im Reiche der Gnaden. Wo ſich das
geiſtliche Leben anhebet, da hebet ſich auch das
geiſtliche Licht mit an, ſintemal der Glaube,
wie ſchon gedacht, beydes iſt; und iſt, erleuch-
tet ſeyn, oder den rechten Gebrauch ſeines geiſt-
lichen Geſichtes haben, und zur Beurtheilung
goͤttlicher Dinge anwenden, eine Ubung des
geiſtlichen Lebens. Darauf auch Johannes ge-
het, wenn er c. 1, 4. von CHriſto ſpricht: Jn
ihm war das Leben, und das Leben war
das Licht der Menſchen.
6. Verlieret einer nun das geiſtliche Le-
ben, ſo verlieret er auch das geiſtliche Licht,
und behaͤlt nichts, als eine bloß buchſtaͤbliche
Erkaͤntniß goͤttlicher Dinge. Wie es alſo oh-
ne Zweifel bey den erſten Menſchen ergangen iſt,
daß ſie nemlich, da ſie das Ebenbild GOTTes
und mit demſelben das geiſtliche Leben verloh-
ren haben, auch des geiſtlichen Lichts ſind ver-
luſtig worden. Denn wer wolte doch immer
mehr ſagen, daß ſie zwar in Suͤnden erſtorben,
aber doch wahrhaͤftig erleuchtet geblieben, und
alſo das Ebenbild GOttes nur halb, nemlich
bloß im Willen, verlohren, im Verſtande aber
behalten haͤtten?
7. Es iſt aber wohl zu mercken, wie das
eines das andere befordert und zu mehrern
Wachsthum bringet, nicht allein der immer
mehr geheiligte Wille die mehrere Aufklaͤrung
des Verſtandes, ſondern auch dieſe die mehrere
Reinigung und Thaͤtigkeit des Willens. Dar-
um der Apoſtel wuͤnſchet, daß der Philipper ih-
re Liebe immer mehr und mehr reich werden
ſolte in aller Erkaͤntniß; das iſt dann die Er-
kaͤntniß. Denn gleichwie die mehrere Heili-
gung des Willens die Decke der Vorurtheile und
Jrrthuͤmer immer mehr vom Verſtande hinweg
nimt, daß dieſer ſodenn goͤttliche Dinge viel
eigentlicher und richtiger einſiehet: alſo verur-
ſachet eine ſolche mehrere Einſicht bey einem er-
weckten und zarten Gewiſſen auch immer mehr
Treue zur Ausuͤbung deſſen, was man genauer
erkennet.
8. Aus ſolcher Beſchaffenheit der Erkaͤnt-
niß und ihrer genaueſten Verbindung mit der
Heiligung des Willens, ſiehet man leicht-
lich, woher es komme, daß das Wort erken-
nen, Erkaͤntniß u. ſ. w. wenn von einer wah-
ren Erkaͤntniß goͤttlicher Dinge die Rede iſt, al-
lezeit mit einem groſſen Nachdrucke ſtehe, und
dadurch eine recht lebendige, geheiligte und thaͤ-
tige Erkaͤntniß verſtanden werde, wenn auch
der Heiligung des Willens nicht dabey gedacht
wird. Denn die Sache ſelbſt bringet es alſo
mit ſich.
9. Es ſind uͤber das im obigen Texte die
beyden Worte πάσῃ ἀισϑἡσει, nach ihrem
Nachdrucke wohl zu mercken. Da wir denn zu
erwegen haben
a. Woher ſie genommen ſind. Ἄισϑησις
heißt eigentlich eine Empfindung, welche
man in den Gliedmaſſen der Sinnen, ſon-
derlich des Geſchmacks und des Gefuͤhles hat,
und welche zur Erkaͤntniß und Beurtheilung
eines coͤrperlichen Dinges noͤthig iſt. Denn
z. E. die Speiſe und den Tranck, die Frucht
eines Baumes, die Art eines Gewaͤchſes er-
kennet man theils am Geruch, theils, und
am meiſten, am Geſchmack. Und iſt dieſe Em-
pfindung, welche dadurch geſchiehet, daß
durch ſolche Dinge die Gliedmaſſen der Sin-
ne wircklich und genugſam beruͤhret werden,
ſo noͤthig, daß ohne dieſelbe unmuͤglich ei-
ne
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