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Lange, Helene: Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England. In: Die Frau 15 (1907), S. 420-423.

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Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts
in England.


Nachdruck verboten.

Am 8. März ist die Frauenstimmrechtsvorlage im englischen Unterhaus "zu Tode
diskutiert". Das heißt, man hat durch Obstruktion die Abstimmung verhindert.
Von außen sah die Sache sich an wie eine Jllustration zu der Behauptung: Kleine
Ursachen, große Wirkungen. Die Entscheidung über einen Beschluß von einzigartiger
welthistorischer Bedeutung hängt davon ab, ob es fünf Uhr wird, ehe dem Redner,
der die Obstruktionsrede zu halten hat, die Luft oder die Erfindung ausgeht. Und
man versteht die Empörung der englischen Frauen, daß eine Sache, die ihnen so ernst
ist wie ihre Vaterlandsliebe selbst, zum Gegenstand einer solchen Komödie wird, wie
die vom 8. März. 7 Minuten vor 5 Uhr kommt der letzte Redner zu Wort. Der
Vertreter der Vorlage, Mr. Dickinson, der ehemalige Vorsitzende des Londoner Graf-
schaftsrates, dem es heiliger Ernst war mit seiner Sache, erhebt sich gleichzeitig, um
den Antrag auf Schluß der Debatte und Abstimmung zu stellen. Er wurde vom
Präsidenten ignoriert. Das wiederholt sich, als er unter den Bravorufen seiner
Freunde und dem Lärm seiner Gegner noch mehrmals versuchte, seinen Schlußantrag
einbringen zu können. Und so hatte der Obstruktionsredner, Mr. Rees, die Ehre,
die Frauenstimmrechtsbill totzureden.

Jn der Komödie herrschte "doppelter Dialog". Es spielten andere Dinge mit
als der Zufall. Die Diskussion selbst und die Äußerungen der englischen Presse zeigen
das deutlich. Man gibt im ganzen dem Präsidenten recht, oder man sagt wenigstens,
er habe nicht anders handeln können.

Warum nicht? Es handelt sich durchaus nicht um eine Konzession an die
Stimmung des Volks dem Stimmrecht gegenüber, sondern lediglich um eine taktische
Frage der politischen Lage. Man will in England das Frauenstimmrecht, trotz der
Petition von 21000 Frauen, die Mr. Evans gegen das Stimmrecht mobil gemacht
hat. Das will nicht sehr viel sagen, gegenüber den hunderttausenden von Petentinnen,
die seit Jahrzehnten alljährlich das Parlament um eine Frauenstimmrechtvorlage an-
gehen. Man hielt Mr. Evans mit Recht entgegen, daß es immer Leute geben wird,
die ihre Ketten lieben. Es will auch nicht viel sagen, daß unter diesen Gegnerinnen
des Stimmrechts Mrs. Humphrey Ward und Mrs. Corelli sind. Künstlerinnen sind im
ganzen nicht die Leute, die man um die Notwendigkeit öffentlicher Rechte fragen muß.
Es liegt in der Natur der Sache, daß sie eine romantische Geringschätzung für solche
äußerlichen Dinge haben. Viel schwerer wiegt, daß Mrs. Sidney Webb, die gleich-
falls früher nicht an die Notwendigkeit des Stimmrechts für die Frauen glaubte, ihre
Ansicht geändert hat.

Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts
in England.


Nachdruck verboten.

Am 8. März ist die Frauenstimmrechtsvorlage im englischen Unterhaus „zu Tode
diskutiert“. Das heißt, man hat durch Obstruktion die Abstimmung verhindert.
Von außen sah die Sache sich an wie eine Jllustration zu der Behauptung: Kleine
Ursachen, große Wirkungen. Die Entscheidung über einen Beschluß von einzigartiger
welthistorischer Bedeutung hängt davon ab, ob es fünf Uhr wird, ehe dem Redner,
der die Obstruktionsrede zu halten hat, die Luft oder die Erfindung ausgeht. Und
man versteht die Empörung der englischen Frauen, daß eine Sache, die ihnen so ernst
ist wie ihre Vaterlandsliebe selbst, zum Gegenstand einer solchen Komödie wird, wie
die vom 8. März. 7 Minuten vor 5 Uhr kommt der letzte Redner zu Wort. Der
Vertreter der Vorlage, Mr. Dickinson, der ehemalige Vorsitzende des Londoner Graf-
schaftsrates, dem es heiliger Ernst war mit seiner Sache, erhebt sich gleichzeitig, um
den Antrag auf Schluß der Debatte und Abstimmung zu stellen. Er wurde vom
Präsidenten ignoriert. Das wiederholt sich, als er unter den Bravorufen seiner
Freunde und dem Lärm seiner Gegner noch mehrmals versuchte, seinen Schlußantrag
einbringen zu können. Und so hatte der Obstruktionsredner, Mr. Rees, die Ehre,
die Frauenstimmrechtsbill totzureden.

Jn der Komödie herrschte „doppelter Dialog“. Es spielten andere Dinge mit
als der Zufall. Die Diskussion selbst und die Äußerungen der englischen Presse zeigen
das deutlich. Man gibt im ganzen dem Präsidenten recht, oder man sagt wenigstens,
er habe nicht anders handeln können.

Warum nicht? Es handelt sich durchaus nicht um eine Konzession an die
Stimmung des Volks dem Stimmrecht gegenüber, sondern lediglich um eine taktische
Frage der politischen Lage. Man will in England das Frauenstimmrecht, trotz der
Petition von 21000 Frauen, die Mr. Evans gegen das Stimmrecht mobil gemacht
hat. Das will nicht sehr viel sagen, gegenüber den hunderttausenden von Petentinnen,
die seit Jahrzehnten alljährlich das Parlament um eine Frauenstimmrechtvorlage an-
gehen. Man hielt Mr. Evans mit Recht entgegen, daß es immer Leute geben wird,
die ihre Ketten lieben. Es will auch nicht viel sagen, daß unter diesen Gegnerinnen
des Stimmrechts Mrs. Humphrey Ward und Mrs. Corelli sind. Künstlerinnen sind im
ganzen nicht die Leute, die man um die Notwendigkeit öffentlicher Rechte fragen muß.
Es liegt in der Natur der Sache, daß sie eine romantische Geringschätzung für solche
äußerlichen Dinge haben. Viel schwerer wiegt, daß Mrs. Sidney Webb, die gleich-
falls früher nicht an die Notwendigkeit des Stimmrechts für die Frauen glaubte, ihre
Ansicht geändert hat.

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[420/0001] Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England. Von Helene Lange. Nachdruck verboten. Am 8. März ist die Frauenstimmrechtsvorlage im englischen Unterhaus „zu Tode diskutiert“. Das heißt, man hat durch Obstruktion die Abstimmung verhindert. Von außen sah die Sache sich an wie eine Jllustration zu der Behauptung: Kleine Ursachen, große Wirkungen. Die Entscheidung über einen Beschluß von einzigartiger welthistorischer Bedeutung hängt davon ab, ob es fünf Uhr wird, ehe dem Redner, der die Obstruktionsrede zu halten hat, die Luft oder die Erfindung ausgeht. Und man versteht die Empörung der englischen Frauen, daß eine Sache, die ihnen so ernst ist wie ihre Vaterlandsliebe selbst, zum Gegenstand einer solchen Komödie wird, wie die vom 8. März. 7 Minuten vor 5 Uhr kommt der letzte Redner zu Wort. Der Vertreter der Vorlage, Mr. Dickinson, der ehemalige Vorsitzende des Londoner Graf- schaftsrates, dem es heiliger Ernst war mit seiner Sache, erhebt sich gleichzeitig, um den Antrag auf Schluß der Debatte und Abstimmung zu stellen. Er wurde vom Präsidenten ignoriert. Das wiederholt sich, als er unter den Bravorufen seiner Freunde und dem Lärm seiner Gegner noch mehrmals versuchte, seinen Schlußantrag einbringen zu können. Und so hatte der Obstruktionsredner, Mr. Rees, die Ehre, die Frauenstimmrechtsbill totzureden. Jn der Komödie herrschte „doppelter Dialog“. Es spielten andere Dinge mit als der Zufall. Die Diskussion selbst und die Äußerungen der englischen Presse zeigen das deutlich. Man gibt im ganzen dem Präsidenten recht, oder man sagt wenigstens, er habe nicht anders handeln können. Warum nicht? Es handelt sich durchaus nicht um eine Konzession an die Stimmung des Volks dem Stimmrecht gegenüber, sondern lediglich um eine taktische Frage der politischen Lage. Man will in England das Frauenstimmrecht, trotz der Petition von 21000 Frauen, die Mr. Evans gegen das Stimmrecht mobil gemacht hat. Das will nicht sehr viel sagen, gegenüber den hunderttausenden von Petentinnen, die seit Jahrzehnten alljährlich das Parlament um eine Frauenstimmrechtvorlage an- gehen. Man hielt Mr. Evans mit Recht entgegen, daß es immer Leute geben wird, die ihre Ketten lieben. Es will auch nicht viel sagen, daß unter diesen Gegnerinnen des Stimmrechts Mrs. Humphrey Ward und Mrs. Corelli sind. Künstlerinnen sind im ganzen nicht die Leute, die man um die Notwendigkeit öffentlicher Rechte fragen muß. Es liegt in der Natur der Sache, daß sie eine romantische Geringschätzung für solche äußerlichen Dinge haben. Viel schwerer wiegt, daß Mrs. Sidney Webb, die gleich- falls früher nicht an die Notwendigkeit des Stimmrechts für die Frauen glaubte, ihre Ansicht geändert hat.

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Die parlamentarische Niederlage des Frauenstimmrechts in England. In: Die Frau 15 (1907), S. 420-423, hier S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_niederlage_1907/1>, abgerufen am 16.04.2024.