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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten,
mich lächeln zu lassen? Der Antheil, den
ich an der Freude meiner Wohlthäterinn
nahm, stärkte mich. Alles Uebel war
geschehen; wenn ich geredet hätte, würde
nur das Gute, nicht das Böse, unter-
brochen worden seyn. Die erste Stunde
war voll der größten Quaal, die mein Herz
jemals betroffen hätte; aber grausam
würde ich gewesen seyn, wenn ich das
Herz der lieben Lady durch meine Ent-
deckungen geängstiget hatte. Sie liebt
mich, sie ist gerecht und tugendhaft; der
heftigste Abscheu würde sie gegen den bö-
sen Menschen erfüllen, der nun ihr Neffe,
der geliebte Gemahl ihrer Nichte ist.
Vielleicht ist er auf dem Wege der Besse-
rung -- und gewiß wäre er selbst in der
äußersten Sorge, wenn er wüßte, daß
ich hier bin. -- Er kannte mich niemals;
niemals dachte Er, daß das Schicksal
mir einst die Gewalt geben würde, ihm so
sehr zu schaden. Aber ich will sie nicht
gebrauchen, diese Gewalt; ungestört soll er
das Glück genießen, welches ihm das Ver-

hängniß
II Theil. N

Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten,
mich laͤcheln zu laſſen? Der Antheil, den
ich an der Freude meiner Wohlthaͤterinn
nahm, ſtaͤrkte mich. Alles Uebel war
geſchehen; wenn ich geredet haͤtte, wuͤrde
nur das Gute, nicht das Boͤſe, unter-
brochen worden ſeyn. Die erſte Stunde
war voll der groͤßten Quaal, die mein Herz
jemals betroffen haͤtte; aber grauſam
wuͤrde ich geweſen ſeyn, wenn ich das
Herz der lieben Lady durch meine Ent-
deckungen geaͤngſtiget hatte. Sie liebt
mich, ſie iſt gerecht und tugendhaft; der
heftigſte Abſcheu wuͤrde ſie gegen den boͤ-
ſen Menſchen erfuͤllen, der nun ihr Neffe,
der geliebte Gemahl ihrer Nichte iſt.
Vielleicht iſt er auf dem Wege der Beſſe-
rung — und gewiß waͤre er ſelbſt in der
aͤußerſten Sorge, wenn er wuͤßte, daß
ich hier bin. — Er kannte mich niemals;
niemals dachte Er, daß das Schickſal
mir einſt die Gewalt geben wuͤrde, ihm ſo
ſehr zu ſchaden. Aber ich will ſie nicht
gebrauchen, dieſe Gewalt; ungeſtoͤrt ſoll er
das Gluͤck genießen, welches ihm das Ver-

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[193/0199] Kraft gehabt, mich aufrecht zu erhalten, mich laͤcheln zu laſſen? Der Antheil, den ich an der Freude meiner Wohlthaͤterinn nahm, ſtaͤrkte mich. Alles Uebel war geſchehen; wenn ich geredet haͤtte, wuͤrde nur das Gute, nicht das Boͤſe, unter- brochen worden ſeyn. Die erſte Stunde war voll der groͤßten Quaal, die mein Herz jemals betroffen haͤtte; aber grauſam wuͤrde ich geweſen ſeyn, wenn ich das Herz der lieben Lady durch meine Ent- deckungen geaͤngſtiget hatte. Sie liebt mich, ſie iſt gerecht und tugendhaft; der heftigſte Abſcheu wuͤrde ſie gegen den boͤ- ſen Menſchen erfuͤllen, der nun ihr Neffe, der geliebte Gemahl ihrer Nichte iſt. Vielleicht iſt er auf dem Wege der Beſſe- rung — und gewiß waͤre er ſelbſt in der aͤußerſten Sorge, wenn er wuͤßte, daß ich hier bin. — Er kannte mich niemals; niemals dachte Er, daß das Schickſal mir einſt die Gewalt geben wuͤrde, ihm ſo ſehr zu ſchaden. Aber ich will ſie nicht gebrauchen, dieſe Gewalt; ungeſtoͤrt ſoll er das Gluͤck genießen, welches ihm das Ver- haͤngniß II Theil. N

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/199>, abgerufen am 21.11.2024.